Vorwort des Verfassers
Zueignung (1934)
Sangerberg
Der Name Tanzer
Älteste Nachrichten über die Familie Tanzer bis zu Leonard Tanzer I
Thaddäus Tanzer (1813 - 1869
Die Tanzer-Gruft in Sangerberg
Die Kinder des Thaddäus Tanzer und seiner Frau Franziska, geborene Brunner
Leonard Tanzer II 1838 bis 1905
Die Forschung nach den mütterlichen Ahnen
Franz B r o s c h e II
Die Nachkommen Franz Brosche II und seiner Frau Theresia Fiedler
Franziska T a n z e r ‚ geborene Brosche, 1844 - 1917
Die Ehe Leonard und Franziska Tanzer
Die Nachkommen des Leonard Tanzer und der Franziska Brosche
Franziska Tanzer (1866 - 1890)
Franz Tanzer (1867 - 1939)
Hermine Tanzer (1869 - 1932)
Leontine Tanzer (1870 - 1934)
Rosa Tanzer (1873 - 1941)
Friederike Tanzer (1874 - 1944)
Leonard (Leo) Tanzer III (1875 - 1944)
Simon Tanzer (1875 – 1959; Bild 73,78,79)
Alexandrine Tanzer (Bild 81)
Bruno Tanzer (Bild 82)
Das Familienwappen
Das Hopfengeschäft und die Firma Gebrüder Tanzer
Die großen Familienbildnisse
Nachwort
Vorwort des Verfassers
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Soweit ich in mein Leben zurückdenken kann, immer beschäftigte mich unsere Familiengeschichte. Das geschah freilich noch in kindlichen Formen. Es war mehr Neugierde und Familienstolz, was den Knaben bewog, den Erzählungen der Erwachsenen zu lauschen und sie mit Fragen zu bedrängen. In dem Köpfchen ging es auch kunterbunt durcheinander. Sagen und Märchen der Heimat lagen neben geschichtlichen Ereignissen und Erzählungen über meine Vorfahren, die mächtige Persönlichkeit des “Alten Thaddäsen“ begann mich zu fesseln. Der “Broschenvoter“, Mutters Vater, war eine ferne Märchengestalt, die uns jeden Herbst mit seltenem Obst bedachte, von Zeit zu Zeit irgendwie in unsere Geschicke eingriff, aber dann verstarb, versank, ohne daß man mehr davon merkte, als daß meine Mutter eine Weile mit nassen Augen umherging. Und es freute mich sehr, wenn die Leute mit sichtlicher Achtung von uns sprachen, von den gemeinnützigen Taten der Ahnen erzählten, von glänzenden Festen, vierspännigen Kutschen, Jagdabenteuern und Gelagen.
Aber dem Heranwachsenden genügten diese verschwommenen Vorstellungen nicht mehr und so wendete ich mich zu greifbaren Dingen, Gegenständen, die irgendeine Beziehung zu den Vorfahren hatten. Ich begann zu sammeln, Bücher, Bilder, Spazierstöcke, Messer, Feuerzeuge, Schnupftabakdosen, Pfeifen, Zigarrenspitzen, Gläser und allerlei alten Hausrat trug ich zusammen. Aber ich tat das nicht wie ein Museumsverwalter, der alles nur zur Betrachtung aufstellt. Im Gegenteil, ich nahm die Dinge in Gebrauch. Die Bücher standen in meinem Bücherschrank, die Bilder hingen als Wandschmuck in meinem Zimmer, ich trug Vaters seidenen Schlafrock, ein exotisches Stück, das er einmal vor vielen Jahren von der Messe in Nischninowgorod mitgebracht hatte, zündete im Café mit Großvaters Feuerstahl und Schwamm die Zigaretten an, ging in Vorvätertracht auf Bälle, trug Großvaters goldene Uhr, obwohl ihr kurzlebiges Spindelwerk keine verlässliche Zeitmessung erlaubte.
In dieses zufällige Treiben kam erst allmählich Ordnung und Plan in dem Maße, wie mir mit zunehmender Reife die Familiengeschichte über eine bloße Liebhaberei zur ernsten Verpflichtung hinauf wuchs durch die Erkenntnis, wie innig wir durch Vererbung und Herkommen körperlich und seelisch mit unseren Vorfahren verbunden sind,. Ich legte nun Mappen mit Urkunden an, füllte die Lücken aus, schrieb auf, was ich wußte, zeichnete Stammbäume und Ahnentafeln, sammelte und ordnete alle erreichbaren Lichtbilder, fotografierte Häuser und Landschaften, die auf unsere Familie Bezug hatten, und scheute keine Mühe, wenn sich eine Gelegenheit bot, mein Werk zu fördern.
So war im Laufe der Jahre eine umfangreiche Sammlung, mit nur wenig Lücken, zustande gekommen, die wohl als Grundlage und zur Ausstattung einer ernsten Arbeit dienen konnte. Diese Arbeit wollte ich in meiner Pensionistenzeit leisten. Welch schöne Aufgabe, das Werk junger Jahre nach den Erfahrungen eines langen Lebens zu betreuen und mit dem reifen Formgefühl des Alten zu gestalten. Wie hatte ich mich darauf gefreut.
Es ist anders gekommen. Die Aussiedlung hat mich um alles gebracht. Auch die ziemlich weit vorgeschrittene Familiengeschichte mußte ich in der Tschechei zurücklassen. Sie ist wahrscheinlich mit meinen anderen Arbeiten verbrannt worden (siehe meine Lebensgeschichte). Geblieben ist mir nur der Vorsatz, diese Familiengeschichte dennoch zu
schreiben. Der sitzt fest in meinem „Thaddäsendickschädel“ und drängt zur Ausführung. Wer sollte auch die Arbeit leisten, wenn ich es nicht tue? Die Quellen sind verschüttet, es wird sie niemand mehr finden. Ich hab sie doch noch rauschen gehört ....
Mit diesem Klang im Ohr will ich versuchen, unsere Familiengeschichte aus der Erinnerung zu schreiben. Wenn ich ganz ehrlich sein will, aus verblassender Erinnerung. Denn das Gedächtnis des 63jährigen schwindet schon und das böse Erlebnis der Aussiedlung steht wie ein Blick hemmender Vorhang zwischen Einst und Jetzt. Unter solchen Umständen liegt die Gefahr nahe, daß die Geschichte zur Dichtung wird. Ich will dieser Gefahr mit dem festen Willen zur Wahrheit begegnen und dort, wo ich dennoch Ungewisses sagen muß, Fragezeichen einschalten, eins oder mehr, je nach der Zuverlässigkeit und Wahrscheinlichkeit, des Gesagten. Es werden leider viele solche Fragezeichen in meiner Geschichte stehen. Aber ich tröste mich und meine damit, besser eine Geschichte mit Fragezeichen als ein einziges Fragezeichen ohne Geschichte.
Auch die Ausstattung des Buches mit Bildern und Stammbäumen usw. wird dürftig ausfallen, denn die wenigen dazu brauchbaren Stücke, die ich (siehe meine Lebensgeschichte) herüberretten konnte, werden den Mangel der Hauptsachen eher fühlbar machen als beheben.
Und so werde ich, wenn ich diese Arbeit schließe, nicht wie der liebe Gott am siebten Schöpfungstage die Hände in den Schoß legen und sagen können, daß alles gut sei, im Gegenteil, ich will dieses Ende nur als einen vorläufigen Abschluss angesehen wissen und in der Lebensspanne, die mir hoffentlich noch gegönnt ist, trachten, die offenbaren Mängel meiner Arbeit zu verbessern.
Das kann ich aber nicht allein tun, ich brauche dazu die Hilfe aller Verwandten. Wer etwas besser, wer zu einer Stelle mehr weiß als ich, melde mir solche Verbesserungen und Ergänzungen. Ich werde alles verarbeiten. Wer Urkunden, Bilder, Gegenstände u.a. besitzt, die in unserer Familiengeschichte Aufnahme oder Erwähnung finden können, der leihe mir diese Sachen oder schicke mir Bilder und Gleichstücke. Ich will auch gern an den Wohnort des Besitzers kommen und mir solche Bilder und Gleichstücke selber herstellen.
Aber mit alledem ist die Familiengeschichte immer noch nicht beendet. Wie die Familie weiter wächst, so muß auch die Familiengeschichte in, den Familien der Nachkommen weitergeführt werden. Ich kann nur den Stamm, bestenfalls einige Ansätze geben, die Verästelung und Verzweigung ist Eure Sache.
So und nur so können wir in gemeinsamer Arbeit ein Werk schaffen, das uns allen und auch noch unseren Nachkommen Nutzen und Freude bringen soll.
Bruno Tanzer
Eschenbach im Dezember 1949
Zueignung (1934)
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Wenn ich wieder auf den blauen Straßen gehe
Zwischen Wiesengrün und dunklem Forst,
Bergwärts wandre an den braunen Bächen,
Ihrem leisen Rauschen lausche
Und dem Windessausen
In den hundertjähr’gen Fichten,
Wenn ich auf dem Waldmoos ruhe
und im dunklem Wipfelkranze
Lichte Wolken ziehen sehe
Hoch - so hoch im Blauen oben -
Und den Duft des Quendels atme,
Den der Bergwind mir vom
Waldessaum herüber trägt,
Wenn ich lang vertraute Laute
Und die alten Lieder wieder höre,
Die wir Kinder sangen,
Wenn das Bergmannsglöckel läutet,
Ob zum Beten oder Sterben:
Zieht michs hin zum halb vermoosten
Stein der Ahnen,
Bricht die Knie mir und drückt
Meine heiße Stirn ins Gras,
Das süße Weh: Ich bin daheim.
Sangerberg
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Die Tanzers stammen aus Sangerberg (Bild 1). Der Ort liegt in der heutigen Tschechoslowakei, am Rande des Kaiserwaldes, etwa 8 km nördlich des weltberühmten Kurortes Marienbad. Sangerberg hatte rund 2000 Einwohner.
In 720 m Meereshöhe gelegen, im Norden offen, gegen Süden zu mit Bergen von nahezu 900 m gesperrt, hat es ein raues Gebirgsklima, in dem nur derbe Feldfrucht gedeiht. Getreide, Kraut, Dorschen, Kartoffeln und Heu. Der kurze Sommer ist wohl schön und der lange Winter oft märchenhaft (Bild 2 und 3), aber wer dauernd dort leben will, der muß, wie die Sangerberger sagten, von guten Eltern sein. Das waren aber nicht alle Sangerberger.
Angesichts solcher Tatsachen hat man oft gefragt, warum gerade in dieser Gegend eine Ansiedlung entstand. Der Kundige kann sie leicht beantworten. Die Ortsnamen mit dem Grundwort “Berg“ bezeichnen meist Orte, wo Bergbau getrieben wurde (Freiberg, Sebastiansberg, Kuttenberg, Katharinaberg, usw). Und in der Umgebung von Sangerberg sind auch noch viele Berglöcher und Stollen zu finden.
An dem Bestimmungswort “Sanger“ haben Legenden und dilettantische Philologen (Sang der Berg, Sange Ahre) viel herumgerätselt, bis die Marienbader Germanistin Dr. Liesl Reininger die wahrscheinlichste Deutung gab. “Sangern“ oder “Sängern“ ist wohl nicht mehr gebräuchlich, aber noch in “versengen“ erhalten und in Ortsnamen wie Sangerhausen. Vermutlich haben die siedlungswilligen Bergleute den damaligen Urwald mit Brand gerodet. Diese Deutung wird auch durch Flurnamen (“Am Brand“, “Brandl“) gestützt.
Das alles ist freilich schon lange her, die Ortsgründung geht wohl in die Zeit der böhmischen Könige zurück, als die Przemysliden deutsche Siedler ins Land riefen und die schon bestehenden deutschen Orte förderten. Auch die Einteilung der Gemarkung erinnert an die “Lokatoren“ jener Zeit. Als Lokatoren bezeichnete man Unternehmer, die im Auftrag des Grundherrn das Land an die Siedler verteilten.
Woher die Bergleute kamen, läßt sich vielleicht aus Familiennamen schließen, die bis in die letzte Zeit in Sangerberg gebräuchlich waren. “Pöpperl“ dürfte das schwäbiche “Pepperle“ sein, die Hessen (Hausname) kamen wohl aus Hessen und der Name Sabathil läßt sich leicht als das tschechische “Zavadyl“ erkennen.
Der Ort scheint rasch gewachsen zu sein, denn schon im Jahre 1320 hielten die Tepler Prämonstratenser dort eine Filialkirche unter einem Pfarrer Andreas, und eine im Sangerberger Stadtarchiv verwahrte Urkunde (leider nur eine Abschrift) behauptet, daß der Petschauer Lehensherr Borso von Riesenburg den Sangerbergern im Jahre 1378 das Luditzer (d.i. das Egerer und Nürnberger) Stadtrecht verliehen habe: “in und all irn nachkummling uf ewige zeiten“ (ihnen und allen ihren Nachkommen auf ewige Zeiten).
Ob die Kirche des Tepler Ohorhermn Andreas an derselben Stelle stand wie die jetzige Kirche, weiß man nicht, könnte es aber nach dem mächtigen Mauerwerk vermuten. Sicher ist nur, daß die Sangerberger Kirche ihre heutige Form (Bild 4) erst nach einer wahrscheinlichen Zerstörrung im Schwedenkrieg erhalten hat. Sie wurde im Barockstiel gebaut, die letzte Innenausstattung (Bild 5) erfolgte um 1850 in der damals üblichen Neuromanik.
Unter den Riesenburgern und den nachfolgenden Pflugen erlebten die Sangerberger einen Aufschwung. Aber der Dreißigjährige Krieg zerstörte diese schönen Ansätze wieder. Noch zu meiner Zeit ging. bei uns das alte Verslein um:
D‘Schwedn San kumma,
Hon ofls mitgnumma
Hon d‘Fenza angeschlogn,
Hon s Blei davoa trogn,
Hon Kugel dras gossn
U d‘Leit daschossn.
In Sangerberg wurde, so wie im Erzgebirge, Silber und Zinn gegraben. In unserer Kirche befanden sich noch zu meines Vaters Zeiten mannshohe Leuchter aus Sangerberger Zinn und ich hatte auch noch Sangerberger Zinnteller (Bild 72) mit den eingestanzten Buchstaben “AM“. Wahrscheinlich hatte meine Urgroßmutter Creszentia Misof sie mit in die Ehe gebracht. Diese Teller sind, wie meine andere Habe, bei der Aussiedlung in Wannow zurückgeblieben. Die Sangerberger Kirchenleuchter hat ein unverständiger, wahrscheinlich ortsfremder, Pfarrer noch vor meiner Zeit gegen “Moderne“ vertauscht.
Die Sangerberger betrieben den Bergbau mit Unterbrechungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Dann waren die Gruben erschöpft oder doch nicht mehr so “fündig“, daß der Abbau sich lohnte. Mein Großvater Thaddäus war. einer der letzten Bergwerksherren. In meinem Folienarchiv befand sich ein Schriftstück des Schlaggenwalder Bergamtes, das meinem Großvater mitteilte, daß die eingesandten Gesteinsproben nur etwas Zinn, wenig Silber und gar kein Gold enthielten.
Nach dem Bergbau mußten sich die Sangerberger andere Erwerbe suchen. Sie wählten den Handel und die Welt. Zu meiner Zeit gabs daheim noch Hopfen-, Vieh-, Schweine-, Darmhandel und noch manche andere Geschäfte. Viele Sangerberger gingen als Kellner und Zimmermädchen in die aufblühenden nahen Kurorte Karlsbad, Marienbad, Franzensbad (Bild 1) oder zogen als Musikanten und Musiker in und durch die Welt.
Der Handel, besonders der Hopfenhandel, hatte den Sangerbergern wieder zu einigem Wohlstand verholfen, weil diese Sangerberger Firmenherren (Kaspar Danzer, Gebrüder Tanzer, die Roth, Sabathil, Paulus, Pöpperl) an der Heimat hingen und einen Teil ihrer reichen Gewinne ihren Sangerberger Höfen zukommen ließen. Sie hielten sich auch den Sommer über dort auf, um die wenig erträgliche Landwirtschaft als eine Art Steckenpferd (Hobby, wie man heute sagt) zu betreiben.
Als der Hopfenhandel infolge wirtschaftlicher Umstellungen in der Welt zurückging, kamen die Sangerberger wieder in Not. Und da versuchten sie es in der allerletzten Zeit mit der Kursommerfrische. Es wurde aber nicht viel daraus. Denn außer dem Kurhaus (Baujahr 1870) waren die Häuser wenig auf die Beherbung von Fremden eingerichtet und die lockende Anzeige im Kurwerbeblatt “Closet im Hause“ bewirkte mehr Lächeln als Zuspruch. Und die zahlreichen Kohlensäurequellen ? War damit nichts zu machen? Leider nicht. Sie waren wohl gut zum Gebrauch im Ort, eigneten sich aber wegen eines eisenhältigen Satzes wenig zum Versand.
Almwirtschaft, wie mein Vater sie plante, hätte vielleicht mit gutem Absatz in den nahen Kurorten rechnen können. Aber dazu fehlten die Transportmittel. Die Bahnverbindung hatte uns das einflussreiche Tepler Kloster verdorben und Autos gab es damals noch nicht oder waren doch für die ärmer gewordenen Sangerberger nicht erschwinglich.
Die Aussiedlung der Jahre 1945/46 hat das Problem gelöst. Die Sangerberger haben im Reich Unterkunft und Verdienst gefunden. Der Ort soll nach einem Bericht des “Volksboten“ im Jahre 1953 schon übel aus gesehen haben und jetzt, 1964, erzählte ein Sangerberger, der kürzlich die alte Heimat besuchte, daß “nur noch die Tanzerhäuser stehen, alles andere verschwunden sei“. Was mit den “Tanzerhäusern“ gemeint sei, konnte ich nicht erfahren, denn ich habe nicht selbst mit dem Besucher gesprochen und der Überbringer der Nachricht hatte nicht danach gefragt.
Die Sangerberger waren rein deutsch, es gab weder Tschechen oder Juden noch sonstige Andersvölkische im Ort. Ihre Religion war der Katholizismus, den Protestantismus des 16. Jahrhunderts hatte die Gegenreformation gründlich beseitigt. Das durfte nicht immer mit friedlichen Mitteln geschehen sein, denn das zu meiner Zeit noch in Sangerberg übliche Wort “Dich wir i scho nuch katholisch mochn“ war nicht als Segenswunsch gemeint. Auch der Chorumbau in der Kirche erinnert noch an jene Zeit.
Trotzdem Handel und den Reisen, welche die Sangerberger in die Welt geführt hatten, waren Sie daheim doch wieder das, was sie immer gewesen waren. Lokalpatrioten, die sich dickschädlig nach außen abschlossen, fremden Zuzug hinderten und nur untereinander heirateten. Diese Inzucht förderte die Sangerberger Erbkrankheiten. Herzinfarkte und Lungentuberkulose. Diese Erbkrankheiten meinte ich, als ich eingangs schrieb, “Wer dort in Sangerberg dauernd leben wollte, mußte von guten Eltern sein. Das waren aber nicht alle Sangerberger“. Wir haben oft darüber gesprochen, wie in dieser reinen Gebirgsluft die Lungenkrankheit aufkommen konnte. Vielleicht stammte sie aus dem unhygienischen Bergwerksbetrieb früherer Jahrhunderte.
Die alte Sangerberger Bauart glich der fränkisch-oberpfälzischen. Wahrscheinlich haben sie die ersten Siedler von dort mitgebracht. Diese Bauweise ist gekennzeichnet:
1.Durch Fachwerk (Balkengerüst mit einer Lehm-Häcksel Füllung).
Das nüchterne Tragwerk war häufig zu einem reizvollen Zierwerk fortentwickelt. Die Füllungen waren weiß, die Balken “ochsenrot“ oder “tannengrün“ gestrichen.2.Durch aufgelockerte Frontenzüge.
Die Häuser standen mit den Giebelseiten schräg zur Straße und jedes Haus war gegen seinen rechten (oder linken) Nachbar um einige Meter zurückgestellt. (Siehe Hersbruck, Lauf oder Dinkelsbühl). Diese Anordnung bot gegenüber der starren Häuserzeile neben dem freundlich gelockerten Anblick noch einen praktischen militärischen Vorteil. Der eingebrochene Feind konnte besser beschossen werden. (Bild 6 und 7)Diese schöne Bauweise wurde aber bei uns schon in meiner Jugend nicht mehr geübt und die alten Bauten waren bereits arg im Schwinden. Hatten wir um die Jahrhundertwende noch etwa 50 Fachwerke unter den rund 200 Häusern des Ortes, so waren es um 1940 kaum noch zehn. Wie war es zu diesem Schwund gekommen? Sehr einfach.
Groß- und Kleinbrände hatten ein gutes Viertel des Ortes zerstört und beim Wiederaufbau nahm man, es gab ja damals noch keinen Heimatschutz, die protzigen Steinbaukästen zum Vorbild (Bild 6 und 18),welche die reichen Handelsherren errichtet hatten. Aber nicht genug damit: Das böse Beispiel der Palastbauten wirkte auch auf die Leute in den Fachwerkhäusern. Sie “verrohrten“ und vermörtelten die Fassaden.
Wir Heimatfreunde sahen dieser Entwicklung mit machtlosem Bedauern zu. Es war seltsam, so sehr die unentwegten Sangerberger ihr Innerstes Wesen zu bewahren trachteten, in den äußeren Formen waren sie labil, fremden Einflüssen wehrlos zugänglich.
Und so hatte das Schwinden der heimischen Bauweise auch ein Gleichnis im Aussterben der alten Volks- und Festtracht. Sie war schon zu meiner Zeit fast verschwunden, lebte nur noch schüchtern im Kopftüchelbund einiger alter Weiblein. Allmacht Mode hatte auch hier ganze Arbeit geleistet. Thaddäus und Franziska Tanzer (Bild 91 ) waren 1835 noch in Tracht zur Trauung gegangen, aber schon die nächste Generation, meine Eltern, hatten 1866 in städtischer Kleidung geheiratet. (Bild 96,97,98,99).
Die Mundart der Sangerberger war zu meiner Zeit noch gut erhalten. Ein kräftiges Egerländerisch, dem einige wenige Fremdworte, welche die Hopfenpflücker “Aus‘m Land“ heimgebracht oder durchziehende Franzosen hiergelassen haben mochten, wenig Eintrag taten, weil die Sangerberger sie ihrer Sprechweise anpaßten. So wurde aus dem tschechischen “Zvacina“ (Ton auf der ersten Silbe) die Sangerberger “Watschjena“ (Ton und Dehnung auf der vorletzten Silbe) und wenn der Sangerber Bauer seinen Sohn “meana“ ließ (das Pferd beim Äckern führen), so wußte er nicht, daß er französisch sprach (mener = führen). Ein Germanist aber hätte in Sangerberg helle Freu deerlebt, soviel altes Sprachgut war da noch erhalten. Das Trumm in der Einzahl, die Uiwaliach (Stubendecke), s Drischeiferl (Türschwelle), s suntri Wesen (Sonntagskleid), der Langwied (Langholz am Wagen), der Breama (die Bremsfliege) und viele mehr. Auch den alten mittelhochdeutschen Dual (zween, zwo, zwa) gab es da noch. Zwej Ochsen, zwou Köin, zwoa Kalwla. Ja sogar Reste oder Ansätze eines Trials fanden sich zu meiner Zeit noch. Drei Ochsen, drei Köih, aber dra Kalwla.
Und so könnte ich noch viel über Sangerberg erzählen. Aus der Ortsgeschichte, über Familien-, Vor- und Hausnamen, lustige Streiche und Bräuche, Kulturgeschichtliches, Kirchliches, Anektoden usw. In der ersten Fassung meiner Familiengeschichte habe ich das auch getan, ausführlich und beschwingt, wie eben einer schreibt, der sich der Heimat verbunden fühlt und im Schreiben nur schwer ein Ende findet. Jetzt aber, zehn Jahre später, bei der zweiten Fassung scheint es mir besser, diesen Abschnitt sachlicher zu halten und zu kürzen, weil ich meine, daß die ausführliche erste Fassung nur die Sangerberger Verwandten ansprechen, den Anderen aber wenig sagen würde. So ist der Sangerberger Abschnitt erster Fassung auf ein Drittel zusammengeschrumpft. Wer aber neben dieser zweiten Fassung auch die erste haben möchte, der soll mir schreiben, ich werde sie ihm gern schicken.
Wir alten Sangerberger und andere Sudetendeutsche haben oft darüber gesprochen, ob man die neue tschechische Devisenwerbung “Besucht die schöne CSSR“ als Gelegenheit zu einem Besuch in der alten Heimat benützen solle. Ich pflegte in solchen Fällen zu sagen :
Der Kopf mag manches Für und Wider einer solchen Reise erwägen. Mein Herz spricht ohne Besinnen ein klares Nein. Ich will das Bild der Heimat, das ich in mir trage, nicht schänden.
Eine Jugendfreundin hat kürzlich Sangerberg besucht und alles, was sie erzählte, war: “Ich bin auf dem Wolfstein gesessen, hab hinuntergeschaut und geweint.“
Der Name Tanzer
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Der Name Tanzer dürfte ein Berufs- oder Spottname sein für einen, der aus Beruf oder Neigung viel tanzte, also ein Tänzer war. Er kann aber auch von dem altgermanischen Wort “danc“ herleiten, was soviel bedeutet wie geschickt, gewandt in körperlichen Übungen und noch in dem hochdeutschen Wort Tanz erhalten ist. In beiden Fällen wäre der Name uralt, denn spätere Zeiten (nach 1300) nahmen die Familiennamen meist von christlichen Vornamen und hätten wohl auch nach der Lautverschiebung die Form „Tänzer“ verwendet.
Die Ab1eitun des Namens von Danzig, also Danziger, lehne ich ab, weil kein Grund bestünde, siehe Schlesinger, die Silbe “ig abzustoßen.
Die Schreibung des Namens wechselt in den alten Urkunden und Matriken. Danzer und Dantzer finden sich daneben Tanzer und Tantzer. Ja, ich hatte in meiner Sammlung einen Taufschein (ich glaube, es war der von Thaddäus Tanzer), wo der Vater mit “D“ und der Sohn mit “T“geschrieben ist. Man nahm das in den alten Zeiten nicht so genau. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts festigt sich die Schreibung Tanzer in unserer Familie, wahrscheinlich aus geschäftlichen Gründen: zur Unterscheidung unseres Geschäftes von anderen Hopfenhandlungen wie Kaspar Danzer, Franz Danzer, Stanislaus Danzer, Karl Danzer u.a.m.
Älteste Nachrichten über die Familie Tanzer bis zu Leonard Tanzer I
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Die Familienforschung ist in unserem Fall sehr schwer, weil, wie schon erwähnt, die Sangerberger Matriken nicht über 1700 hinaufreichen und die älteren Kirchenrechnungen (siehe oben) wenig Aufschlüsse geben. Auch in Petschau, bei unserer alten Grundherrschaft, ist nichts mehr zu finden: die Grundbücher sind nach Prag geschafft worden und dort schwer zu erlangen. Ich habe in Prag nur Teilstudien machen können, zu eingehenden Forschungen bin ich (siehe oben) nicht mehr gekommen. Und so ist meine Darstellung lückenhaft und nur ein mutmaßlicher Zusammenhang möglich.
Die Entstehung von Sangerberg und alte Familienüberlieferungen, wo nach wir aus Franken eingewandert seien, wo ja auch heute noch der Name vorkommt, legen die Vermutung nahe, daß unsere Vorfahren als Bergleute nach Sangerberg kamen. Zum ersten Mal findet sich der Name in den Sangerberger Kirchenrechnungen aus dem 16. Jahrhundert. Daß sie darin erscheinen, läßt auf einiges Ansehen in der Gemeinde schließen. Dann erfahren wir aus der Rulla, der Landesrolle vom Jahre 1654 für den E1bogner Kreis, daß in Sangerberg damals drei Familien Danzer waren: Michel, Georg und Kaspar Danzer. Für uns kommen nur Michel und Georg in Betracht, weil mit Familie Kaspar Danzer vermutlich die „Föichtlbauernleute“ gemeint sind, die häufig bis in unsere Zeit herauf, den Namen Kaspar verwendeten.
Unsere erste Familienurkunde ist ein Kaufvertrag vom Jahre 1745, mit welchem Josef Tanzer zwei Achtel Höfel erwirbt nach einem Simon Pöpperl, dessen Gütel vergantet wurde “weilen Simon Pöpperl lüderlichen Wesens war, gehorsam weder der geistlichen noch der weltlichen Obrigkeit“ und das dem Josef Tanzer zugeschlagen wurde, “weil nach mehrfachem Ausrufen niemand mehr bieten wollte als Josef Tanzer, welcher 20 Gulden geboten hat.“
Dieser Josef Tanzer ist einer unserer verbürgten Ahnen. Nicht nur, daß seine Kaufurkunde in unserem Besitz war, ich habe ihn auch in der Pfarrmatrik einwandfrei als Vorfahren feststellen können.
Über seinen Vater freilich bin ich im Zweifel, denn es fanden sich in der Matrik zwei Johann Danzer, die als Väter in Betracht kamen
Auch die im Kaufvertrag angeführten zwei Achtel Höfel, die man als unseren Stammhof ansehen kann, waren nicht genau zu ermitteln, weil die Hausnummern seit damals zweimal gewechselt haben und in den späteren Urkunden verschiedene Nummern ohne nähere Erklärung auftauchen: Der Föichlseffnof (neue Nummer 171/2), der Völkelhof (neue Nummer 168) und der Thaddäsenhof (neue Nummer 164/5). Es ist freilich auch möglich, daß die Familie schon begütert und diese Ersteigerung nur ein Zukauf war. Wie dem auch sei, in den Jahren 1770 scheint Josef Tanzer schon in annehmbaren Verhältnissen gewesen zu sein. Denn bei der Ubergabe eines Hofes an seinen Sohn Johann Josef Tanzer wird schon allerlei angeführt, was der Sohn bekommt und was der Witwe als Ausgeding vorbehalten bleibt
Trotz diesem klaren Vertrag kam es später zu Streitigkeiten zwischen Mutter und Sohn. Das war aus einigen amtlichen Schriftstücken zu ersehen. Diese Zwiste mögen den Sohn gewitzt haben. Sein Vertrag, womit er seinen ältesten Sohn Leonard Tanzer (gebt 1787) als Erben einsetzte, war sehr genau und knifflig abgefasst, Eine der Töchter, also eine Schwester des Leonard Tanzer, heiratete den Sangerberger Völkl. Ich glaube sie hieß Marianne. Die Familie Völkl saß um 1900 noch in Sangerberg auf Nr. 168 (neu). Ob Marianne in diesen Hof eingeheiratet oder ihn als Mitgift bekommen hat, weiß ich nicht.
Mit Leonard Tanzer 1. scheint der Aufstieg der Familie begonnen zu haben. Die alten Geschäftsbücher, noch ziemlich primitiv geführt, zeigten schon einen zahlreichen, weit über das damalige Osterreich-Ungarn und über Deutschland, besonders Bayern, verbreitet Kundenkreis. Sein sehr ausführliches Testament, das ich in einer Abschrift besaß, offenbart einen ordentlichen und schon im Wohlstand befindlichen Geschäftsmann.
Der Grabstein auf dem Sangerberger Friedhof war ein mächtiges Monument in dem damals (1845) üblichen neugotischen Stil, geziert mit dem Familienwappen, und eine schöne Inschrift besagte, daß der Verstorbene “ hier liegt, umgeben von sieben Enkeln“. Welche Enkel das waren, konnte ich nicht feststellen, auch nicht, woher das Familienwappen stammt. Es war einfach da. Ich vermute, man hat es sich selber “zugelegt“, weil der wachsende Reichtum und die romantische Mode solche Dekors verlangte.
Leonard Tanzer spendete der Kirche eine Glocke. Sie trug seinen Namen. Ich habe sie oft geläutet und hat wahrscheinlich der Gemeinde noch manche andere Wohltat erwiesen, denn als sein Grabstein einem Kriegerdenkmal Platz machen sollte, haben alte Sangerberger das mit dem Hinweis verhindert, Leonard Tanzer sei ein Guttäter des Ortes gewesen.
Leonard Tanzer war mit Creszentia Mysoph (1785 - 1853) verheiratet. Auch ihr Grabstein, etwas kleiner, aber nicht minder prächtig als der ihres Mannes stand noch im Jahre 1945 auf dem Sangerberger Friedhof. Aus der Ehe kamen vier Kinder: Thaddäus, Johann, Anna und. Theresia. Die Reihenfolge weiß ich nicht mehr genau. Thaddäus und Johann lebten auf den beiden Pfauenhöfen Nr.164 und 171/2. Die Wohngebäude dieser Höfe hatten blecherne Pfauen als Windfahnen (siehe weiter unten). Anna Tanzer heiratete den Andreas Horn (Schwalmbecken, gegenüber Nr.162), Theresia den Kaspar Danzer (Föichtlbauer). Sie soll eine energische Dame gewesen und keineswegs durch die Heirat weich geworden sein, wie der Volkswitz wegen der Namensänderung von Tanzer auf Danzer behauptete. Ihre reiche Mitgift und ihr Erbe sollen der Firma Kaspar Danzer viel beim Ausbau ihres Geschäftes geholfen haben.
Thaddäus Tanzer (1813 — 1869)
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Ein Lichtbild zeigt ihn als einen Fünfziger mit eigenwilligem und bedeutendem Kopf, dem man wohl zutrauen kann, daß seine Erfolge kein Zufall, sondern das Ergebnis von Wissen, Können und ungewöhnlicher Tatkraft waren. Gemessen an dem Sessel, auf den er sich mit einer Hand stützt, durfte er über Mittelgröße gewesen sein. Alte Sangerberger Leute, die ihn noch gekannt hatten, haben mir das bestätigt, “er wor ab hübsch graussa Moa“. Auf weitere Fragen bekam ich nur ein paar Redensarten als Antwort, aus denen ich aber doch glaube entnehmen zu können, daß Thaddäus Tanzer bei seinen Mitbürgern wohl geachtet, vielleicht gar gefürchtet, aber nicht sehr beliebt gewesen sein mag.
Woher sein Wissen und Können stammte, kann ich nur vermuten. Die Sangerberger Volksschule dürfte ihm nicht viel gegeben haben. Darüber erzähle ich noch. Daß er eine höhere Schule besucht hätte, ist mir nicht bekannt, es ist auch unwahrscheinlich. So bleiben als Quellen nur Bücher und der Lebenskampf, als Mittel Begabung und großer Fleiß.
Thaddäus Tanzer besaß eine reiche und gepflegte Bücherei. So berichtet die Überlieferung, und die Reste, welche noch auf mich gekommen sind, bestätigen es. Lauter gut gebundene Pappbände mit Lederrücken, auf dem die Titel und als Besitzerzeichen T.T. in echtem Gold aufgeprägt waren. Eine katholische Bibel, Charles Dickens, Johannes Scherr, das Jahrbuch Libuscha u.v.a. gab es da.
Daß Thaddäus Tanzer sehr fleißig war, dafür sprechen schon seine zahlreichen Geschäfte und mannigfachen Tätigkeiten. Aber auch seine Briefe beweisen es. Ich besaß ganze Bücher und Bündel davon, Konzepte, Kopien auf Seidenpapier und auch Originale, lange Briefe, oft viele an einem Tage und alle mit eigener Hand geschrieben. Sie zeigten durchwegs eine gleichmäßige flüssige, ausgeschriebene Hand und einen klar nüchternen Geschäftsstil mit festem grammatischen Gefüge und ohne die damals üblichen Floskeln
Bei diesen Fähigkeiten ist es auch verständlich, daß Thaddäus Tanzer schon im jugendlichen Alter von 16 Jahren selbständig größere Geschäfte führen darf (Bild 89).
Thaddäus Tanzer heiratete jung, er war kaum 24 Jahre alt, eine Verwandte, seine Base Franziska Brunner. Zwei alte Bilder zeigen das Brautpaar in Sangerberger Tracht ( Der Maler war kein Künstler, wohl ein Dilettant oder herumziehender Taferlmaler. Immerhin sind die Trachten gut gemalt und das Bild der Großmutter zeigt sogar einige Ähnlichkeit mit ihrem späteren, ausgezeichneten Bildnis von Anton Hölperl (Bild 94, 95). Bei dem Trachtenbilde Thaddäus Tanzers kann ich das nicht finden. Freilich, so erzählte mein Vater, soll Thaddäus Tanzer zu der Zeit, als das Brautbild gemalt wurde, krank gewesen sein und schlecht ausgesehen haben.
Im Jahre 1839 bauten sich Thaddäus und Franziska Tanzer in Sangerberg ein Haus; ein nach damaligen Begriffen sehr geräumiges und wahrscheinlich das erste große Steinhaus in Sangerberg, in einem einfachen klassizistischen oder, wenn man will, auch Biedermeier Stil (Bild 6), mehr praktisch als schön, aber immer noch ein Juwel an Architektur gegen das, was später in Sangerberg entstand. Das Hauszeichen, die Buchstaben TFT von einem Lorbeerkranz umgeben, in Blech getrieben, besaß ich bis zu meiner Ausweisung. Mit seinen guten Formen und den Spuren echter Vergoldung, die trotz einem Jahrhundert bösen Sangerberger Wetters noch daran hafteten, schien es mir immer wie ein Familiensymbol (Bild 72).
Der Hopfenhandel blühte. Die Bücher zeigten deutlich den Zuwachs, den die jetzt gegründete Firma “Gebrüder Tanzer“ (Johann und Thäddäus Tanzer) erfahren hatte. Damals gab es noch keine Bahnen bei uns. Alles wurde „per Achs“ und meist vierspännig aus dem Sattel gefahren. Unsere Geschirrkammer auf dem Stübelboden enthielt noch mehrere Dutzend Geschirre und Sättel aus dieser Zeit. Um die vielen Gespanne, die Thaddäus Tanzer für das Hopfengeschäft brauchte, auch in der flauen Zeit, im Sommer auszunutzen, betrieb der Großvater auch Holzhandel und Lohnfrächterei. Man erzählt sich, es seien so viele Gespanne und Knechte gewesen, daß sie einander oft gar nicht kannten, auf der langen Straße zwischen Sangerberg und Triest irgendwo zusammentrafen und nicht wußten, daß sie im selben Dienst waren.
Der erweiterte Handel brauchte eine größere Grundlage. Thaddäus Tanzer trug dieser Notwendigkeit Rechnung, indem er sich in Saaz und später auch in Prag festsetzte. In Saaz baute er das große „Tanzerhaus“ in der Prager Straße, wo auch ich geboren bin. In Prag mietete er Geschäftsräume. Er erwarb auch das Prager Bürgerrecht, und nach den damaligen österreichischen Gesetzen waren wir Nachkommen alle Prager Bürger, auch ich, bis wir durch staatliche Anstellung oder längeren Aufenthalt in einer anderen Gemeinde dort die Heimatzuständigkeit erwarben.
Auch im Bergbau versuchte sich Thaddäus Tanzer. Der Stollen beim Berghäusel scheint ganz sein Werk zu sein. Ich habe ihn noch gekannt, stand als Kind oft davor und starrte mit Neugier in das dunkle Loch, das sich bald im Berg verlor ‚ und hörte erregt die Tropfen von der Wölbung in das stille Wasser fallen. Leute, die in den Stollen eingedrungen waren, erzählten,. daß er sich Kilometer weit in den Berg hineinziehe und daß sie in einer Kammer noch Werkzeug gefunden hätten. Später wurde das Berghäusel abgetragen und der Stollen zugeschüttet. Mit diesem Bergwerksunternehmen hatte Thaddäus Tanzer weniger Glück. Auf eine Gesteinsprobe, ich erwähnte das schon‚ die er dem Bergamt einschickte, kam der Bescheid, daß die Probe etwas Zinn, sehr wenig Silber und gar kein Gold enthalte. (Das Original war in meinem Archiv).
Auch den Plan zu einer Brauerei in Sangerberg hatte der rührige Mann entworfen. Es ist aber, warum weiß ich nicht, nichts daraus geworden.
Wie reich Thaddäus Tanzer und sein Bruder Johann waren, das zeigt auch ihr Vorhaben, den Kaiserwald zu kaufen, den die Montanverwaltung damals abstoßen wollte. Trotzdem der Wald billig zu haben war (s‘Stamml an Kreiza, sagt noch heute das Volk), so wäre doch eine ziemlich hohe Summe zu diesem Kauf nötig gewesen. Die Gebrüder Tanzer hatten das Geld, aber sie konnten über irgendeine Sache, vielleicht die Teilung, nicht einig werden und so ist dieses große Vorhaben, das wahrscheinlich unsere ganze Familie in eine andere und günstigere Richtung geführt hätte, unterblieben. Es war eine der vielen verpaßten Gelegenheiten, welche die Geschichte unserer Familie kennzeichnen. Der Fürst Schönburg kaufte den Wald und ist gut gefahren mit seinem sicheren Besitz, während wir in den bösen Konjunkturschlachten des Hopfengeschäftes aufgerieben wurden.
Daß ein Mann von solchen Fähigkeiten und Ansehen wie Thaddäus Tanzer sich auch in der Offentlichkeit betätigte, ist nur folgerichtig.
Zunächst arbeitete er nur im kleinen Kreis in Sangerberg als Ortsvorsteher und Schulaufseher. Uber die Tätigkeit im Rathaus bin ich nicht unterrichtet, weil ich bei der Durchsicht der Gemeindeprotokolle noch nicht bis zu dieser Zeit vorgedrungen war; seine Schularbeit aber ist mir wohlbekannt:
In den achtziger Jahren begann der damalige Oberlehrer Johann August Siegl “zur Ehre Gottes, zum Wohle der Heimat, wie auch um einer durch behördlichen Erlaß anbefohlenen Pflicht zu genügen“ mit der Abfassung einer Schul- und Ortschronik. Da er noch nicht lange in Sangerberg war und über die Vergangenheit wenig Bescheid wußte, so wandte er sich an seine Amtsvorgänger um Auskunft. Einer, der schon verzogen war und irgendwo bei Teplitz in Pension lebte. Ich glaube, er hieß Kral, kam dieser Aufforderung mit einem langen Brief nach. Diesen Brief schrieb Siegel wörtlich in seine Schulchronik hinein. Und er tat gut daran, denn der Brief schilderte anschaulich die Schulverhältnisse der alten Zeit, aus eigener Erfahrung oder nach Berichten von Augenzeugen und war im besten Wortsinne ein Kulturdokument.
Nach diesem Brief bestand in Sangerberg während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis etwa 1840 eine so genannte Winkelschule, ein Privatunternehmen mit Duldung, vielleicht auch Förderung von Seiten der Gemeinde. An die hundert Kinder waren in einem viel zu kleinen Raum zusammengedrängt, Unterrichtsmittel nicht vorhanden, der Unterricht selbst so gut, besser gesagt, so schlecht, wie ihn ein ungebildeter Mann, der mit Hilfe eines kurzen Unterrichtskurses vom Schweinehirten zum Lehrer aufgestiegen war, erteilen konnte. Er war auch Küster und die Erinnerung an diesen Mann wirkte bis in meine Kinderzeit nach. Die Küsterfamilie, Nachkommen jenes Norbert Mysoph, führte damals noch den Hausnamen Prezetta, eine volksmündliche Verbalhornung des lateinischen Wortes Präzeptor — Lehrer. Launig schildert der Brief dieses Avancement, wie der Schweinehirt seine borstigen Zöglinge mit den menschlichen vertauscht und er findet ernste und hohe Worte für den Mann, der diesen unfähigen Lehrer beseitigte und die Sangerberger Schule auf einen Stand hob, der sie weithin zu Ruf brachte und ihrem Schöpfer das Lob und die Anerkennung höchster Stellen, sogar des Prager Erzbischofs eintrug.
Ich hatte zwei solche Handschreiben des Prager Erzbischofs in meinem Familienarchiv, denn der Mann, dem dieses Lob ausgesprochen wurde, war niemand anderer als mein Großvater Thaddäus Tanzer. Der Brief sagt über ihn ungefähr so: “Nun muß ich aber eines Mannes gedenken, der sich um das Sangerberger Schulwesen unvergängliche Verdienste erworben hat, des Schulaufsehers Thaddäus Tanzer. Er war ein Mann von großen Fähigkeiten, in Bildung und Anschauungen vielen seiner Zeitgenossen weit voraus. Gleich nachdem er sein Amt als Schulaufseher der Gemeinde angetreten hatte, arbeitete er auf die Absetzung Norbert Mysophs und die Einstellung eines richtig vorgebildeten Lehrers hin. Mysoph wollte nicht gehen und fand Rückhalt bei seinen Freunden. Aber Thaddäus Tanzer war nicht der Mann, sich durch Widerstand von seinem guten Vorhaben abbringen zu lassen. Folgst Du nicht willig, so brauch ich Gewalt, hieß es bei ihm. Und er war stark genug, sein Ziel zu erreichen. Aber mit dieser Einstellung eines neuen Lehrers war Tanzers Arbeit für die Schule nicht beendet, damit begann sie erst. Er sorgte nun für ausreichende Schulzimmer, stellte seine eigenen Sammlungen (ausgestopfte Tiere, Bücher, Mineralien, physikalische und chemische Apparate usw.), dem Unterricht zur Verfügung, unterstützte ärmere Schüler mit Geld, Büchern, Heften und stiftete Schulpreise für die Besten. Das war Thaddäus Tanzer. Der Mann verdient, daß Sie ihm in Ihrer Chronik ein Denkmal setzen und dauerndes Andenken sichern.
Soweit der Brief. Alte Leute erzählten mir Ähnliches und auf dem Wirtsboden im Vorhaus des ersten Stockes des Hauses Nr.164 befand sich noch um 1900 ein großer, über die ganze Wand erstreckter Glaskasten voll ausgestopfter Vögel, Marder, Wiesel u.a.m.
Ich sagte schon, daß dieser kleine Wirkungskreis die Arbeit. in Geschäft und Gemeinde dem Tatendrang und der Tatkraft Thaddäu Tanzer nicht genügten. Er strebte weiter, wurde wohl auch weitergedrängt von Leuten, die seine Fähigkeiten kannten und sie vielleicht auch zum eigenen Vorteil der Allgemeinheit zuleiten wollten.
In meinem Archiv befand sich eine Zuschrift mit vielen Unterschriften fast aller Ortschaften des Lichtenstädter Bezirkes, die gerade im schicksalsschwangeren Jahr 1848 den Thaddäus Tanzer aus Sangerberg als Landtagsdeputierten verlangt. Eine andere zählte die Wünsche der Wähler auf, die Thaddäus Tanzer beim Landtag in Prag durchsetzen sollte. Da fanden sich neben allgemeinen Forderungen, die wahrscheinlich von außen herangetragen worden waren, Keime zu Paneuropa wie Zoll- und Münzunion, auch Wünsche aus dem engeren bäuerlichen Leben. So wurden Tiere, Felder und Gelder zurückverlangt, die man den Bauern in der Not der Franzosenkriege mit dem Versprechen der Rückerstattung abgerungen, aber nach der Wiederaufrichtung des Feudalstaates vergessen und nicht wieder herausgegeben hatte. Inwieweit sich mein Großvater zum Sprecher der Bedrückten gemacht und was er erreicht hat, vermag ich nicht zu sagen. Meine Nachforschungen waren ja, wie ich schon wiederholt erwähnt habe, noch nicht abgeschlossen. Die vorbildlich geführte Lichtenstädter Chronik hätte mir vielleicht manches darüber erzählen können, aber ich war noch nicht dazu gekommen, sie einzusehen.
Wenn man diese Dinge hört und den strengen Mann auf den Bildern sieht, dann staunt man erfreut über kleine, in der Familie umlaufen de Geschichten, die zeigen, daß Thaddäus Tanzer auch viel Witz und Humor hatte. Auf einem Rauschenbacher Fest soll er als polnischer Jude Würstel verkauft haben. Einem bettelnden Nichtstuer, der ihn antrat, als er eben zu einer mehrwöchigen Reise in den Wagen steigen wollte, habe er 5 Gulden geboten, wenn er sich den halben Schnurrbart abnehmen lasse und nach seiner Heimkehr abermals 5 Gulden für die andere Hälfte. Die Überlieferung berichtet leider nicht auch, ob die lustige Gewaltkur den Patienten gebessert habe. Und noch eine heitere Geschichte, die mein Vater gern zu erzählen pflegte. Um dem Geldmangel während der Revolutionszeit (1848) abzuhelfen, wurde den vertrauenswürdigen Geschäftshäusern gestattet, Papiergeld herauszugeben. So durfte auch die wohl fundierte Firma Gebrüder Tanzer “Geld machen“, Notgeld. Notgeld, das war etwas Neumodisches in Sangerberg. Es roch nach Überheblichkeit und reizte auf, den Sangerberger Witz daran zu proben : “öitza wer ma amol an Thaddäsen ärchern“ wisperten die Bauern und zündeten mit dem Notgeld als Fidibus ihre Pfeifen an. Thaddäus Tanzer mochte in sich hineingelächelt habe, wenn sie ihm so in den Beutel rauchten, aber den bösen Willen vergalt er ihnen doch. Diese Zöglinge aus der Schule Norbert Mysophs kamen mit dem Lesen schlecht fort und so baten Sie den Thaddäs, ihnen aus der Zeitung die neuen politischen Nachrich ten vorzulesen. Der tat es wohl, aber er las die Zeilen durch alle drei Spalten über den Trennungsstrich hinweg. Und wenn die Leute nach einigem verständnislosen Zuhören ausbrachen: “Vetta Thaddäs, no dös koa du neat san“, dann hielt er ihnen ernsthaft die Zeitung unter die Augen: “Steit alls sua dau, woi ichs soch !“ (Notgeld: Bild 11 und 12).
Das Bild. meines Großvaters schiene mir unvollständig, wenn ich schließlich nicht auch eine Frage stellte, die mich viel beschäftigt hat : Wie hielt er es wohl mit der Religion ?
Seiner Erziehung und dem Zeitgeist entsprechend war er gewiss fromm, aber als Mann, “der seiner Zeit weit voraus war“, sicherlich auch mit dem Gedankengut des anbrechenden naturwissenschaftlichen Zeitalters vertraut und frei denkend, und der gute Geschäftsmann dürfte nicht übersehen haben, wie die Kirche über den evangelischen Auftrag hinaus mit ihrem Pfund wucherte. So mag sich der scheinbare Widerspruch erklären, daß Thaddäus Tanzer bei seinen Untergebenen streng auf den sonntäglichen Kirchenbesuch sah, selber auch seinen Stammsitz in der Dorfkirche hatte (auf der Südseite der 4.Bank war noch 1944 eine Tafel aus Messingsilbler zu sehen: Thadd. Tanzer No.74 alte Hausnummer) ‚ aber mit dem Ortspfarrer Bruckner eine lange Fehde um eine Messestiftung führte, in der er hartnäckig um “Münz und Schein“ feilschte. Der Briefwechsel darüber war in meiner Sammlung, die Originale des Pfarrers und die Entwürfe oder Abschriften von Großvaters Briefen. Der Streit ging um die Stiftung einer “Ewigen Messe“ für Leonard und Creszentia Tanzer. Der Pfarrer behauptete, die seinerzeitige mündliche Abrede habe auf “Münz“, die wertvollere Währung gelautet, während Thaddäus Tanzer nur “Schein“ d.i. Papiergeld zugestehen wollte. Beide Partner nahmen sich kein Blatt vor den Mund. Ich erinnere mich noch, daß der Pfarrer den Thaddäus Tanzer einen unbändigen und harten Mann nannte, dem das Geld mehr am Herzen läge als das Seelenheil seiner verstorbenen. Eltern, und daß Thaddäus Tanzer von der irdischen Geldgier derer sprach, die sich mehr um die himmlischen Güter kümmern sollten. Aber Ende gut alles gut. Im letzten Brief bedankte sich der Pfarrer herzlich und höflich für den guten Wein und die Ewigen Messen dauerten bis in meine Kinderzeit hinein.
Der Prager Bürger Thaddäus Panzer hatte seine Familiengruft in Prag auf dem Wolschaner Friedhof. Er und seine Frau Theresia (geb. Brunner) wurden auch dort beigesetzt. Als aber unsere Familie verarmte und die Erhaltungskosten für die Gruft nicht mehr bestreiten konnte, mußte sie verkauft werden. Die Leichenreste wurden in dem gleich daneben gelegener Grabe Hermann Panzers, siehe weiter unten, beigesetzt (1930).
Wenn Thaddäus Tanzer auch diese Beisetzung in Prag anordnete, er mag doch gefühlt haben, daß er nach Sangerberg gehöre und diese Zugehörigkeit irgendwie betonen müsse. So erkläre ich mir die Stiftung der Torpfeiler am alten Sangerberger Friedhöf. Johann Tanzer schenkte den linken Thaddäus den rechten. Auf diesem steht:
Hier endet Haß, Neid und Verfolgung
Thaddäus Tanzer 1851
Ach, er hat doch nicht sehr weit über seine Zeit hinausgesehen, der kluge Thaddäus Tanzer. Heute wird auch der Sangerberger Friedhof umgewühlt, aus Habsucht nach Gold und Haß gegen alles Deutsche.
Die Tanzer—Gruft in Sangerberg
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(Bild 13)
Ob diese Gruft mit der Aufschrift “Familie Panzer“ der Familie Johann Tanzer allein gehörte oder auch Mitglieder der Familie Thaddäus Tanzer aufnehmen sollte, weiß ich nicht. Sicher ist nur, daß wohl Adam Panzer darin ruht, von unserer Seite aber niemand.
Dennoch lagen die Pläne zur Gruft bei uns. Ich hatte sie noch bis zur Austreibung in meinem Archiv. Der neugotische Bau (um 1870 entstanden) ist ganz in Sandsteinquadern aufgeführt und hatte bunte Fenster. Der Sandstein mußte angeblich von weit hergeholt werden und der Bau soll darum mehr als 20 000 Gulden gekostet haben, ein Kapital, das wohl einer Viertelmillion heutiger DM gleichkäme.
Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Gruft zu einer Kriegergedächtnisstätte umgestaltet, aber die Aufschrift “Familie Tanzer“ ist geblieben.
Die Kinder des Thaddäus Tanzer und seiner Frau Franziska, geborene Brunner
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Aus dieser Ehe waren fünf Kinder gekommen. Mein Vater (Leonard) wurde im Jahre l838 geboren. Die Reihenfolge der vier übrigen weiß ich nicht genau, nur ihre Namen: Simon, Anna, Franziska und Hermann.
Vaters Schwester Anna heiratete einen Grazer Müller Gottinger. Wir waren nicht “bös auf die Gottingers“, hielten aber keine Verbindung mit Ihnen, kaum daß einmal im Familiengespräch der Name fiel.
Als ich 1908/09 in Graz studierte, war die Tante Anna schon tot. Ich wollte aber doch die Verwandten kennen lernen. Das gelang mir nicht. Beim ersten Versuch traf ich niemand an, das zweite Mal wurde ich auf der Plattform der Elektrischen von einem Auto so bespritzt, daß ich in diesem Aufzug keinen Antrittsbesuch machen konnte, und den dritten Besuch vereitelte ein ähnliches Mißgeschick. Ein wenig zum Fatalismus neigend, nahm ich diese Hindernisse als Anzeichen dafür, daß der Besuch “nicht sein sollte“ und gab mein Vorhaben auf. Vielleicht, so meinte ich, war das Aufhören, der Abbruch oder das Abebben der Familienbeziehungen doch nicht grundlos, nicht ohne Krach geschehen und ich hätte als Angehöriger der Gegenpartei allerhand Unangenehmes erlebt.
Vaters Schwester Fanny (Franziska) hatte gegen den Willen der Familie einen Buchhalter (Meretta) geheiratet. Dieser Widerspruch der Familie galt nicht dem Mann, denn der war einwandfrei, sondern seiner Stellung. Heirat mit einem Buchhalter der Firma Tanzer war doch eine Mesalliance für ein Mitglied der Familie Tanzer. Fanny mußte auf ihr Erbteil verzichten und sich verpflichten, nie mehr nach Sangerberg und Saaz zu kommen. Sie tat es in einem erschütternden Brief. Ich hatte das Original dieses Schreibens in meinem Archiv. Nach heutigen und wohl auch nach damaligen Gesetzen ist der Verzicht rechtlich nicht begründet, Tante Fanny hat vermutlich aus kindlichem Gehorsam gehandelt.
Aber das Opfer brachte Ihr doch nicht das erwartete und verdiente Glück : Meretta starb bald. Tante Fanny heiratete später den Apotheker Hayd in Luditz. Es dürfte mehr eine Freundschafts- und Versorgungsehe, als eine Liebesheirat gewesen sein, aber die beiden sollen gut miteinander gelebt haben.. Wenigstens erzählen meine Geschwister Hermine und die Zwillinge, die mit den Hayds in Fühlung waren, nur Gutes über Sie und Hermine erbte sogar einen wertvollen Flügel von der Tante.
Vaters Bruder Simon war, was man damals einen Lebeman nannte. Er lebte mehr in Wien als in Sangerberg, Saaz und Prag und hatte seine “Passionen“. Eine davon, die Rennpferde, trug ihm die Eifersucht unseres besten Kunden, des Großbräuers Dreher ein und führte zum Verlust der Kundschaft. Als Onkel Simon nach Melle geschickt wurde, um zu erkunden, ob die Firma Tanzer das ihr verschuldete Bräuhaus übernehmen solle (siehe Hopfengeschäft), achtete er mehr auf die alten Standuhren und andere Antiquitäten als auf den Zustand der Gebäude und Geschäfte. Aus dieser Nachlässigkeit erwuchsen der Firma große Schwierigkeiten (siehe Hopfengeschäft). Später heiratete er eine Berlinerin, Thusnelda Ley. Nach dem Lichtbild in unserem Familienalbum muß Tante Thusi eine sehr schöne Frau gewesen sein. Mein Vater pflegte die junge Frau gern zu necken: “Berlin ist ganz schön, aber die Berliner-Rinnen sind nicht schön“. Das Wortspiel bezog sich auf die Abzuggräben, die damals noch offen zu beiden Seiten der Berliner Straßen liefen.
Die schöne Thusi war selbst reich und wurde durch die Firma Tanzer noch reicher. Sie soll alljährlich 2000 Gulden Nadelgeld, also eine Art Taschengeld, von der Firma bezogen haben. Trotzdem hat sie, als die Firma in Schwierigkeiten geriet, nicht geholfen, sondern noch geschadet, indem sie ihre Einlage kündigte und damit die Firma zu einem ungünstigen Verkauf der Moabitgründe zwang (siehe Hopfengeschäft).
Ob dieses Verhalten die Ursache oder Folge des Zwistes mit unserer Familie war, weiß ich nicht, nur, daß mein Vater dieser Schwägerin “nicht auf den Namen kommen“ konnte. Keine Seite unternahm etwas diese Lage zu bessern, ja Tante Thusi hat sie noch verschlechtert, indem sie nach unserer Verarmung alljährlich nach Sangerberg kam und mit großem Gepränge auftrat, sich als Fahnenpatin der Feuerwehr, als Spenderin einer Kirchenorgel, als Gönnerin der Ortsarmen usw. feiern ließ. Die Sangerberger nahmen, was sie gab, ließen sich aber keinen Sand in die Augen streuen. Das beweist der Spottvers beim Versagen der Orgel
Einer geschenkten Orgel
Schaut man nicht in die Gorgel !
Ich übernahm diese Familienabneigung schon als Kind und sie wuchs mit mir. Darum lehnte ich auch ab, als Tante Anna (die Fichtelbäuerin) mich mit Tante Thusi bekanntmachen wollte. “Du würdest ihr gefallen und könntest Dein Glück machen!“. Mein Familienstolz ließ es nicht zu, daß ich auf solche weise “mein Glück“ machte. Übrigens ist es nicht so gewiß, daß ich gut angekommen wäre. Vielleicht hätte ich ihr nur als Pferdchen vor ihrem Triumphwagen oder gar als Fußschemel gedient. Mein Bruder Franz soll eine solche Erfahrung gemacht haben.
Über Hermann weiß ich nur, daß er nicht alt wurde und in Prag auf dem Wolschaner Friedhof gegenüber der Tanzergruft begraben liegt. Als wir die Erhaltungskosten der Gruft nicht mehr tragen konnten und sie verkaufen mußten, wurden die dort ruhen Sangerberger Großeltern in das Grab Hermann überbettet.
Leonard Tanzer II 1838 bis 1905
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(Bild 14, 15, 16, 17, 18, 90, 96)
Über meinen Vater kann ich aus eigener Erinnerung wenig berichten und dieses Wenige stammt nicht aus seiner besten Zeit, sondern aus seinem Alter und seinem Niedergang. Mit dem Tanzerschen Fehlherz behaftet, von Rheuma geplagt, in den Nachwehen einer Blasenoperation befangen, tappte ein müder Greis neben mir her und ich, der junge Turner und Leichtathlet konnte wenig Verständnis dafür aufbringen, daß der alte Mann alle zehn Schritte stehen bleiben mußte, und auch mich unter allen möglichen Vorwänden am Weitergehen hinderte. Er klagte viel über seine Leiden und hatte gern Ärzte um sich, war wohl auch ein wenig Hypochonder, und wir hielten dafür, daß er sich gar nicht recht wohl fühlte, wenn ihm nichts fehlte.
Mein Vater stand damals im Anfang der Sechzig‚ sah aber älter aus, als man sich heute einen Sechziger vorstellt. Er war klein, etwa 160 cm, hatte einen großen Kopf (Hutweite 60) und eine mächtige Glatze. Das breite rote Gesicht umgab ein weißer schütterer Vollbart (eine Erinnerung an eine Seereise nach Konstantinopel, wo die unappetitlichen Barbiere ihm das Rasieren verleidet hatten, die Nase war nach einem Jugendunfall breit geblieben. Das kleine Bäuchlein paßte zu seinem gedrungenen Körperbau. Die Hände waren immer sauber, die Nägel gepflegt. Er trug neben dem Ehering noch zwei bis drei andere Ringe, darunter einen flachen goldenen Siegelring, aber ich kann mich nicht erinnern, daß er ihn jemals gebraucht hätte.
Ich habe meinen Vater mehrmals gezeichnet und gemalt, aber davon nur ein Blatt retten können, den beiliegenden Linolscbnitt (Bild 16). Er ist 1910 nach einer Skizze von 1903 geschnitten. Unter den Stücken, die mir bei der Aussiedlung verloren gingen, befand sich auch eine gute Bleistiftzeichnung meines Vaters, wohl meine beste Zeichnung überhaupt. Um die ist mir sehr leid. Rasch, in wenigen Minuten entstanden, mit jungem Blick gut in den Hauptzügen erfaßt und mit wenigen festen Strichen hingesetzt, zeigte sie über die verblüffende Ähnhichkeit hinaus auch den leisen grämlich-kränklichen Ausdruck, der in den letzten Lebensjahren nie von Vaters Gesicht wich.
Im großen und ganzen gesehen war dieses Gesicht eher häßlich als schön, aber doch auch wieder eher angenehm als abstoßend. Die Kinder, denen man doch ein richtiges Gefühl nachsagt, auf ihn und auch bei den Großen war er immer gern gesehen, wenn ihn nicht gerade der Thaddäsendickschädel hatte und seinen Jähzorn stützte.
Ja, dieser in Sangerberg geradezu sprichwörtliche Thaddäsendickschädel! Ich war einmal als kleiner Junge Zeuge, wie mein Vater auf die Ochsen eines mißliebigen Nachbarn eindrosch, die beim Pflugwenden seinen Acker betreten hatten. Er, der sonst so gut war zu allen Tieren, Hunden, Katzen, Pferden, Kühen, Geflügel. Sogar das Kavaliersvergnügen der Jagd hatte er aufgegeben, weil er, wie er mir selbst sagte, den vorwurfsvollen Todesblick eines Rehes nicht verwinden konnte. Und um den Misthaufen vor unserem Hause, ich habe es in den Gemeindeprotokollen selbst gelesen, hat er lange gekämpft, trotzdem er selbst Aktionär des Sangerberger Kurhauses war und auch sicherlich längst eingesehen hatte, daß Misthaufen nicht in die Straßen eines Kurortes paßten. Ja, solche Gegensätze wohnten in seinem Thaddäsendickschädel ! Und wenn wir Nachfahren in einer guten Stunde uns prüfen, dann werden wir den Thaddäsenlöinhort verstehen, weil wir selber schon ähnlich gehandelt haben.
Zur Beliebtheit unseres Vaters mag auch beigetragen haben, daß er sich immer “nobel zeigte“, auch dann noch, als diese “Noblesse“ schon in einem üblen Verhältnis zu seiner Vermögenslage stand und nach einem Sangerberger Sprichwort, weil doppelt gut, halb lüderlich war. Dieses Verhalten entsprang sicherlich keiner Spekulation, beruhte nicht auf der Absicht, beliebt zu bleiben, sondern es lag in seinem Wesen, die Großzügigkeit der guten Jahre auch in den schlechten zu bewahren. Die sachlicher eingestellte Mutter hatte ihr liebes Kreuz mit ihm. Ich erinnere mich noch, welchen Auftritt es damals gab, als die Mutter erfuhr, daß er dem jungen Schmied, der einrücken mußte und ein schwangeres Mädel zurückließ, zur Tröstung fünf Gulden zugesteckt hatte, fünf Gulden, einen Betrag, von dem damals einer, der sich einschränkte, zur Not vier Wochen leben konnte. Und unsere Lage war damals schon so schlecht, daß wir selber nur von der Hand in den Mund lebten.
Diese unbekümmerte Noblesse wurde besonders deutlich, wenn es sich um sein Sangerberg handelte, ja um sein Sangerberg. Er hing an diesem Fleck Erde und an seinem Besitz mit einer rauen und doch rührenden Liebe. Als er die Fehlbeträge seiner großzügigen Wirtschaft nicht mehr aus den Überschüssen des Hopfengeschäftes decken konnte, mußte Mutters Erbteil herhalten, bis sie dessen überdrüssig wurde und hinter seinem Rücken Felder und Wälder an den Fürsten verkaufte. Sie war dazu berechtigt: Großvater Brosche hatte den Sangerberger Hof beim Zusammenbruch des Geschäftes gekauft und seiner Tochter geschenkt (siehe weiter unten). Ausgerechnet an den “Fürsten“, der für jeden guten Sangerberger ein rotes Tuch war. Wieder gab es einen argen Auftritt daheim. Ach, es gab viele.
Vaters Heimatliebe zeigte sich auch darin, daß er gern die Mundart sprach in einer Zeit, wo viele, auch die Sangerberger meinten, mit Hochdeutsch einen Anspruch auf höhere Bildung zu erwerben. Das Sangerberger Spottwort kennzeichnet diesen Fehlschluß: “Ich habe mir die hochdeutsche Sprache so angewöhnt, dare sa gaua nimma laua koan“. Leonard Tanzer brauchte nicht zu fürchten, man könnte seine Vorliebe für die Mundart als Unbildung mißdeuten, denn er sprach ein besseres Hochdeutsch als die anderen Sangerberger, er war wohl auch weiter herumgekommen in der Welt und hatte fremde Sprachen nicht ohne günstige Rückwirkung auf die Muttersprache erlernt, Tschechisch, Französisch und Italienisch. Als die Herzogin von Alen die Schwester unserer Kaiserin, in Paris verbrannte und die Sangerberger nicht recht wußten, wie der Name auszusprechen sei, wandten sie sich an unseren Vater. Sie wandten sich oft an ihn und seine Weltkenntnis, er war auch viele Jahre Bürgermeister.
Aus seinen Briefen und anderen Schriftstücken weiß ich noch, daß er einen guten orthographischen Geschäftsstil schrieb und eine “aus geschriebene“, also unveränderliche Handschrift hatte. (Bild17).
Über das Militärverhältnis meines Vaters weiß ich nur, daß er nie Soldat war. Ich habe ihn nie danach gefragt, konnte mir ihn auch gar nicht in Uniform vorstellen. Vielleicht war er untauglich gewesen, es ist aber auch möglich, daß er sich losgekauft hat. Das gab es damals, ja es war bei den reichen Leuten üblich.
Auch über Vaters religiöse Einstellung weiß ich wenig. Ich kann mich nicht erinnern, daß er je etwas gegen die Religion gesagt hätte, aber ich weiß auch nichts von einer religiösen Betätigung.. Denn, daß er am Karfreitag fastete, nahm auch die Mutter nicht sehr ernst, “ Fasten ist keine Kunst, wenn man den ganzen Tag im Bett liegen bleibt!“ Und so darf ich wohl auf ein mehr freigeistiges Denken mit leisem traditionellen Einschlag schließen.
In jüngeren Jahren soll Leonard Tanzer gern schwere Zigarren, die sog. Kaiservirginia, geraucht und auch wie die meisten Hopfenhänd1er ziemlich viel Bier getrunken haben. Ich habe davon nur wenig bemerkt. Geraucht hat er später überhaupt nicht mehr und Bier nur sehr mäßig getrunken, zu Mittag und Abend je ein Glas.
Mein Erinnerungsbild. wäre unvollständig, wenn ich nicht auch Vaters Humor erwähnte. Wenn er nicht krank war und keine hypochondrischen Anwandlungen hatte, dann konnte er recht lustig sein, Geschichten erzählen, witzige Bemerkungen machen und selber herzlich lachen. Als er mir einmal seine Münzensammlung zeigte und ich den üblichen Knabenwunsch äußerte, da sagte er nur: “Unser Mops wollte sich eine Wurstsammlung anlegen“. Wo mögen die schönen Münzen wohl jetzt sein. Mein Vater konnte die Sammlung auch nicht halten. Warum, das habe ich erst viel später erfahren. Als es wieder einmal knapp zuging im Hause Tanzer und zudem das Schulgeld für mich fällig war, da hat Vater die schöne Sammlung verkaufen, um einen Spottpreis an einen Händler verschleudern müssen. Nur einige wenige Stücke sind übrig geblieben. Die habe ich durch 40 Jahre gehütet. Jetzt liegen sie im Sudetenland begraben, wenn sie die Schatzgräber nicht auch gefunden haben
In seinen besten Jahren soll Leonard Tanzer, so wurde mir oft gesagt, für einen guten Erzähler und glänzenden Gesellschafter gegolten haben. Ich habe davon nicht mehr viel gemerkt, habe nur die obigen Reste und den guten Willen vorgefunden.
Das sind so meine persönlichen Erinnerungen an meinen Vater. Ob wohl sie nur ein lückenhaftes Bild geben, wie es sich eben im Kopfe eines halbwüchsigen Knaben malte, lassen sie doch ahnen, daß dieser Leonard Tanzer mehr war, als er in seinem Alter schien. Darum will ich hier auch das einfügen, was ich über ihn von Anderen und aus seinem eigenen Munde weiß.
Leonard Tanzer wurde am 14. 6.1838 in Sangerberg Nr. 74(alt) als ältester Sohn des Thaddäus und der Pranziska Tanzer geboren und besuchte die Volksschule des Dorfes. Es war um diese Schule schlecht bestellt vor dem Eingreifen unseres Großvaters (siehe dort) und der Vater erzählte oft, daß die Kinder im Winter immer einige Scheitel Holz mitbringen mußten, weil die Gemeinde nicht für Beheizung sorgte. Und der Lehrer war vermutlich damals noch der “Schweinehirt“ Norbert Mysoph. Damit wäre auch zu erklären, daß der Junge schon mit 10 Jahren aus der Schule genommen und zu einem Wiener Kaufmann in die Lehre gegeben wurde, zu einem Juden, weil die Juden als die besten Geschäftsleute galten. Mit meinem Vater traten noch einige andere Jungen ein. Wie staunten sie über die Leutseligkeit des Chefs, als er ihnen gestattete, von all den guten Dingen des Ladens nach Herzenslust zu essen. Daß sie nach dreitägigem Schwelgen all die Herrlichkeiten kaum mehr sehen, geschweige denn essen mochten, fiel ihnen erst später auf.
In diesem Revolutionsjahr 1848 tat sich allerlei in Wien. Es ging drunter und drüber. Aufstände, Tragödien, Hetz und Gaudi quirlten durcheinander, Getötete und Hingerichtete gab es. Hingerichtete, die das Volk mit Gruseln dadurch ehrte, daß sie Taschentücher in ihr Blut tauchten und diese Trophäen daheim aufbewahrten. Auch mein Vater, der kleine Kaufmannslehrling, besaß so ein Tuch, aber die alte Jüdin, seine Lehrherrin, nahm es ihm erschrocken ab: so etwas hätte zu Scherereien führen und ihr Haus in den Verdacht der volutionärer Gesinnung bringen können..
Auf diese Jüdin ging auch eine Einrichtung oder Gewohnheit zurück, die mein Vater bis an sein Lebensende beibehielt: die Innentasche der Weste.
Einmal, es mag um 1850 gewesen sein, gab ihm sein Lehrherr ein Päckchen, das er in die Redaktion einer Zeitung tragen, und weil es sehr wichtig sei, wohl behüten sollte.
“Hast Du denn eine innere Westentasche“, fragte die Lehrherrin. “Nein, hab ich nicht.“
“Komm her, ich mach Dir gleich eine!“
Sie nähte ihm so eine Tasche an die Innenseite der Weste, steckte das wichtige Päckchen hinein und mein Vater lieferte es auftragsgemäß und richtig in der Redaktion ab. Erst viele Jahre später er fuhr er, welche wichtige Rolle er hier gehabt hatte, indem er als unauffälliger Bote eine Unsumme Bestechungsgelder zu Gunsten südöstlicher Eisenbahnaktien (Rumänien ?) an die maßgebende Stelle getragen hatte.
Über die Zeit von 1850 bis zur Mitte der 60er Jahre weiß ich nichts zu berichten, nur, daß aus dieser Zeit ein schönes Jugendbildnis meines Vaters stammt. Unser Hausmaler Anton Hölperl (siehe dort) hat ihn wohl Mitte der 50er Jahre in Biedermeiertracht mit einer schwarzen breiten Halsbinde gemalt: einen sympathischen, fast hübschen jungen Mann mit freundlich-ruhigen Gesichtszügen. Das Bild hing bis zur Austreibung in meinem Zimmer und wurde mehrmals für ein Porträt meines Sohnes Peter gehalten.
Im Jahre 1864 heiratete mein Vater die zweite Tochter des. Bauern und Hopfenhändlers Franz Brosche aus Techobusitz bei Leitmeritz. Er hatte sie wohl im Zuge eines Hopfengeschäftes kennen gelernt. Franz Rosche war ein reicher Mann und es wurde später im Familienkreise oft darüber gerätselt, ob diese Ehe eine Liebes, oder eine Geldheirat gewesen sei. Ich vermute das Erste, wenigstens auf Vaters Seite, denn die Gebrüder Tanzer waren damals noch so reich, daß die 40000 Gulden Mitgift meiner Mutter gar nicht sehr ins Gewicht fielen.
Die Hochzeit (Bild 96,97,98,99) wurde mit einem Pomp gefeiert, der sich mit einer heutigen Fürstenhochzeit wohl vergleichen läßt. Ich bin darüber ziemlich genau unterrichtet durch einen langen Brief, den eine Teilnehmerin, ein junges Mädchen aus der weiteren Verwandt schafft, an eine Freundin geschrieben hat. Es war ein rechter Backfischbrief mit allem Glanz und Klatsch. Das Original befand sich in meinem Archiv, ist aber auch im Sudetenland liegen geblieben.
Nach diesem Bericht fand die kirchlich feierliche Trauung in der Pfarrkirche zu Pitschkowitz statt. Dann fuhr man in einem langen Zuge von Kutschen nach Leitmeritz ins Broschehaus (Lange Gasse), wo das Hochzeitsessen gegeben wurde. Alles, was nur gut und teuer war, stand auf der Tafel, die Kutscher noch soffen den Champagner aus Biergläsern. Am nächsten Tage ging es nach Hracholusk bei Raudnitz (wo die Gebrüder Tanzer eine große Niederlassung besaßen) zu einer nicht minder glanzvollen Nachfeier. Diese Hochzeit war ein Ereignis, von dem die ganze Landschaft sprach und die in der Erinnerung, nicht nur der Teilnehmer, haften blieb. Als junger Mann traf ich in den Jahren nach 1900 noch manchen Alten, der von dieser Prachthochzeit zu erzählen wußte.
Ich habe mir natürlich Gedanken darüber gemacht, was nüchterne Geschäftsleute, und das waren die Brösches noch mehr als die Tanzers, zu einem solchen Aufwand bewogen haben mochte und bin zu dem Erebnis gekommen: Wenn bei den Tanzers die Neigung zum Grandseigneur, meinetwegen auch zur Protzerei mitgespielt haben mag, so durften sich in den Augen der Partner, Brosche wie Tanzer, die Ausgaben als Werbekosten, wie man heute sagen würde, gelohnt haben. Zwei Bildnisse von Hölperl zeigen die Brautleute in den Hochzeitskleidern. Ob sie am lebenden Modell oder nach Lichtbildern gemalt sind, weiß ich nicht.
Die junge Ehe ließ sich gut an. Und Kinder auf Kinder kamen:
Franziska, Franz, Hermine,
Leontine, Rosa, Frieda,
Leo-Moni, Alexandrine,Karoline,
Hansi
Die Reihenfolge der drei Letzten weiß ich nicht genau.
Diese große Familie mit dem Anhang von Dienstleuten, Gouvernanten, Lehrern, fand wohl im großväterlichen Saazer Haus, vielleicht auch in der Prager Mietwohnung, nicht aber im Sangerberger Biedermeierhaus Nr. 74 (neu 164) Platz, das Thaddäus Tanzer 1839 gebaut hatte. Deshalb kaufte Leonard Tanzer das benachbarte Anwesen der Eheleute Wagner Nr. 73 (neu 165) und errichtete dort an der Straße einen mächtigen Steinkasten im damals üblichen Neurenaissance Stil, zweistöckig mit Balkonen, Durchfahrt, Vorgarten und einem Merkur an der Straßenfront. Außer den Wirtschafts- und Kanzleiräumen im Erdgeschoß gab es im ersten wie im zweiten Stock (siehe Bild 18) je sechs ziemlich große Zimmer. Auf den Gängen und in den Stiegenhäusern hingen Hirschgeweihe. Klingelzüge führten von den Zimmern zu Nummernkästen auf den Gängen und in jedem Stockwerk stand eine große Pendeluhr auf dem Gang.
Das Haus mag den damaligen Begriffen von Vornehmheit entsprochen haben, uns späteren, die eine andere Zeit zur Heimatpflege erzogen hatte, war so ein Haus wie ein Schlag ins Gesicht. Wir ärgerten uns um so mehr darüber, als diese Bauten zu Nachahmung und Wetteifer aufreizten. Hatte sich Großvaters Biedermeierhaus mit seinem Schindeldach noch leidlich ins Dorfbild eingefügt, so schienen diese Neubauten darauf angelegt zu sein, das Städtische durch den Gegensatz zur Umgebung zu betonen. Das Fichtelbauernhaus, die Völkelvilla, der Paulushof, der Brunnerhof, das neue Rathaus entstanden in dieser Zeit und später nach den Bränden noch viel scheußlichere Steinkästen wie das Hoamererhaus und die Ostseite der Hauptstraße. Aber diese Bauten wollen wir dem Leonard Tanzer nicht allzu übel ankreiden. Er war eben ein Kind seiner Zeit, wie wir Kinder der Unsrigen sind.
Nach dem Wohnhaus wurden auch die Wirtschaftsgebäude ausgebaut. Gewölbte Ställe, feuersichere Scheuern, eine sogar mit einem Sanddach, Stübeiwohnungen reihten um einen freien großen Hof. Nur die alte großväterliche Scheuer mit dem mächtigen hölzernen Sprengwerk (siehe Holzschnitt) blieb stehen. Sie ist erst viel später mit dem Kloiberhof abgebrannt.
Die ursprünglichen 2/8 Höfel (Bild 19) des alten Josef Tanzer vom Jahre 1745 waren inzwischen zu einem ansehnlichen Grundbesitz angewachsen und der wuchs unter Leonard Tanzer immer weiter. Geschäftsmäßige Erwägungen, Spekulation, Heimatliebe und ein wenig Großmannssucht mögen dabei gemeinsam am Werk gewesen sein, gelegentliche Zwangskäufe ein übriges getan haben. Wer Geld brauchte, der ging zum reichen Tanzer und wenn ihm die Schulden über den Kopf wuchsen, dann zahlte der reiche Tanzer immer noch den besten Preis für Grundstücke und Häuser, die sonst unter dem Hammer nur ein Spottgeld erzielt hätten.
So war der Besitz auf fast 280 Joch, d.s. etwa 150 Hektar, angewachsen: Wiesen, Wälder und Felder. Die Erträgnisse dieser Ländereien (Heu, Holz, Getreide, Stroh, Kartoffeln, Kraut, Turschen usw), waren in den bisherigen Gebäuden nicht mehr unterzubringen. Deshalb kaufte der Vater noch den Nachbarhof auf der anderen Seite, den Kloiberhof, und einige kleinere abseits gelegene Häuser dazu. Schließlich waren über 20 Sangerberger Gebäude, Wohnhäuser und Scheuern in seinem Besitz.
Zu einem Schloß gehört immer ein Park und zu einem schönen Gebäude wie unserem Hause “gehörte sich“ zumindestens ein parkartiger Garten. Also wurde ein Teil der Wiesen hinter den Wirtschaftsgebäuden, der breiten Dreistreifenpeint, in einen Garten umgewandelt, etwa 50 x 100 m, d.s. 5000 Quadratmeter oder 1/2 Hektar, unter den Pflug genommen, 70 cm tief rigolt, planmäßig aufgeteilt, mit Brunnen und Wasserleitungen versehen. Gemüsebeete, Beerenkulturen wurden angelegt, Obst- und Zierbäume gepflanzt und in der Mitte des Gartens ein Treibhaus mit Warm- und Kalträumen gebaut. Zwei Gärtner waren ständig in diesem Garten beschäftigt, oft auch noch einige Tagelöhner.
Liebe Verwandte, Zeitgenossen und Nachfahren, ich sehe eure erstaun ten Augen: Lehne sich denn so ein Wirtschafts- und Gartenbetrieb in 700 bis 800 m Meereshöhe, wo der Sommer, wie schon gesagt, nur ein grün angestrichener Winter war. Darauf muß ich ehrlich antworten: nein, er lohnte sich nicht, aber er lohnte doch dem Unternehmer als eine Art Hobby, wie man heute sagen würde. Ja, diese Sangerberger Betriebe waren Hobbys der reichen Hopfenhändler, die sie gern aus den Überschüssen ihrer Geschäfte speisten. Ob ein paar Tausender hineinkrochen oder einige Hundert heraussprangen, das spielte damals keine Rolle.
Die Geschäfte gingen so gut, daß man sich gelegentlich auch eine mit Geschäften sonst schlecht verträgliche Gutherzigkeit leisten konnte. So beschäftigte mein Vater seine Sommerarbeiter nach Tunlichkeit auch im Winter, ließ sie “Ha-Wölln“ d.i. Heuumwühlen, Erd- und Eisarbeiten machen, Schnee schaufeln oder nahm sie auch mit nach Saaz zu den winterlichen Arbeiten in den Hopfenmagazinen.
Ja, er behielt diese gutherzige Kavaliersgeste auch dann noch bei, als er sich das eigentlich nicht mehr leisten konnte und damit an die Grenze des Verhaltens geriet, die der Sangerberger durch das Sprichwort kennzeichnet: “Doppelt gout is halme löidale“. (Doppelt gut ist halb lüderlich). So erinnere ich mich einer Szene aus meiner Kinderzeit, als es schon schlecht stand mit den Tanzers, wie der Vater die alte Regina nicht loswerden konnte. “No, Rechina, öitza geihts holt nimma recht ‚ werds aufheian möin!“ Da waren dem alten Weiblein, das schon vierzig Jahre auf dem Hof gearbeitet hatte, die Tränen über das faltige Gesicht gekollert und Vater sagte: “No, so bleibts holt!“.
Man darf diesen Vorfall nicht an heutigen Verhältnissen messen. Damals gab es keine geregelte Altersversorgung. Die Alten fielen der Familie und der Gemeinde zur Last. Kein Bauer behielt einen über alterten Arbeiter. Aber mein Vater tat es, bis er wirklich nicht mehr konnte.
Später, als die Geldquelle des Geschäftes versiegte, hätte Leonard Tanzer vielleicht doch noch die Wirtschaft ertragreich machen können und er hatte auch einen guten Plan: Viehzucht und Milchwirtschaft auf der Basis von Lieferungen an die drei Weltbäder Karlsbad, Marienbad und Franzensbad. Sangerberg liegt ja mitten im Bäderdreieck. Die Zufuhr zur Bahnstation Marienbad wäre mit Gespannon, später vielleicht mit Autos zu leisten gewesen. Der Plan wurde aber nicht mehr ausgeführt. Warum, weiß ich nicht. Es mag sein, daß meine Mutter, die Leitmeritzer Verhältnisse gewohnt war, die bisherigen Sangerberger Fehlschläge satt hatte, es kann sein, daß Vater nicht mehr über die Kraft verfügte, vielleicht auch, daß selbst zum kleinsten Anfang nicht mehr genug Geld da war.
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch war die blühende goldene Zeit des Hopfenhandels. Das Geld wurde in Scheffeln eingenommen und konnte darum mit vollen Händen ausgegeben werden.
Zu den Kosten der Wirtschaft kamen noch die hohen Ausgaben einer kavaliersmäßigen Lebenshaltung. Da wurden Reitpferde eingestellt, Viererzüge gefahren, Gelage veranstaltet, hochgespielt. Meine Mutter erzählte aus dieser Zeit, daß Vater oft aus dem Wirtshaus heimkam und ganze Stöße Banknoten achtlos auf den Nachttisch warf. “Hätte ich doch“, sagte sie traurig, “immer etwas beiseite geräumt! Er hätte nichts gemerkt und die Beträge wären mit der Zeit zu einem guten Notgroschen angewachsen“. Aber sie brachte das nicht zuwege. Sie hatte wohl nicht den Mut, auch mochte ihre streng religiöse und kleinbürgerliche Erziehung sie gehindert haben, großzügig das üble Mittel dem guten Zweck unterzuordnen.
Die Kinder wurden auf großem Fuß erzogen, hatten Reitpferde und Ponnygespanne. Hauslehrer, Gouvernanten, Ammen betreuten die Kleinen, die Größeren wurden in Pensionaten (Berlin, Prag) erzogen.
Mehr als großzügig war auch der doppelte und teilweise dreifache Haushalt. Mehr als großzügig, weil er durch die Erfordernisse des Hopfengeschäftes nur teilweise gerechtfertigt war. In Sangerberg, Saaz, Hracholusk und Prag standen wohl eingerichtete Häuser und Wohnungen, die fallweise bezogen wurden, sonst aber leer blieben. Im Herbst zog eine große Wagenkolonne, Kutschen, Lastwagen, Vieh nach Saaz und im Frühling wieder nach Sangerberg. Major Steiner erzählte aus seiner Jugendzeit in Witschitz, daß sie als Jungen diesen Wagenzug immer erwartet und bestaunt hätten.
Aber alles das hätte den Leonard Tanzer nicht umgebracht, wenn nicht das Hopfengeschäft niedergegangen wäre. Ich begnüge mich hier mit diesem Hinweis, weil ich das Hopfengeschäft noch eingehend in einem Sonderteil schildern werde.
Ende der 80’er Jahre war es so weit. Leonard Tanzer blieb in Sangerberg, bebaute sein Land und wurstelte sich schlecht und recht durch. Nicht, daß er ein schlechter Bauer gewesen wäre. Er war praktisch und theoretisch gebildet, besaß u.a. die ganze Thaerbibliothek (Albrecht Thaer 1757-1828 und war der Begründer der wissenschaftlichen Landwirtschaftslehre). Aber er konnte sich an diesen großen Kleinbetrieb nicht gewöhnen. Und als noch Krankheiten dazukamen (Blasenleiden, Prostata, Operation, Herzschwäche), da wurde er weich und gab dem Drängen der Mutter, nach Leitmeritz zu übersiedeln, umso leichter nach, als er die Sangerberger Wirtschaft und die Reste des Hopfengeschäftes seinem Sohn Franz übergeben konnte, auch der Erwägung zugänglich war, mich, den letzten im Hause zu halten und damit ein biligeres Studium zu ermöglichen.
Die Übersiedlung erfolgte im Herbst 1900. Dort, in Leitmeritz (Elisabethstraße 365),verlebte Leonard Tanzer seine letzten Jahre, krank und verbittert, mit nur gelegentlichen Aufheiterungen durch die Freude an den Enkelkindern, wenn der Jude Stroß, ein früherer Geschäftsfreund ihm mit der alten Achtung begegnete oder der Tscheche Cischek, einer seiner ehemaligen Angestellten, ihn mit altväterischer Ehrerbietung huldigte. Dieser Tscheche kam auch, trotzdem er verarmt war, zum Begräbnis und küßte der Mutter die Hand, Tränen in den Augen.
Vaters Tod war der rasche Tanzertod: “Mir ist schlecht!“ sagte er noch, legte sich aufs Bett und als die Mutter hinzutrat, war er schon tot. Das krankmüde Herz hatte ausgeschlagen. Er wurde in der Familiengruft der Brosches in Pitschkowitz beigesetzt.
Die Forschung nach den mütterlichen Ahnen
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Es war schwieriger als die Ermittlung der väterlichen, weil diese mütterliche Sippe nicht wie die väterliche in einem Orte (Sangerberg mit einem guten Pfarrarchiv) lebte, sondern in mehreren Dörfern und Kirchensprengeln wohnte. Auch die mündliche Überlieferung, die mir in Sangerberg so viel half, war hier spärlich, beschränkte sich auf einige Mitteilungen aus Verwandtenkreisen.
Meine Hochzeitsreise (1937), eine “Wanderung auf den Spuren der Ahnen“, ist ein gutes Beispiel für meine Forschung nach den mütterlichen Ahnen (Bild 20).
Die Reise, eine Fußwanderung, führte uns von Bodenbach über Bensen und Wernstädt in die Gegend des Geltsch, des höchsten Berges der Leitmeritzer Gegend (725 m). In Lewin machte ich mir Auszüge aus dem Pfarrarchiv.
Da fand ich einiges Brauchbares. Das Geburtshaus meines Großvaters in Zierde und seine Herkunft aus dem Hause Nr.16 in Niederkoblitz; auch eine Ahne aus Kerzenschof (gemeint war wohl Krzeschow bei Gastorf), Untertanin der Veitischen Herrschaft in Liebeschitz, fand sich in den Büchern. Aber sonst war das Ergebnis mager.
Von Lewin gingen wir weiter nach Zierde, schauten uns das Geburtshaus an, fotografierten es und wanderten dann weiter gegen Niederkoblitz. Der Weg führte über Oberkoblitz. Dort fragten wir einen Mann, der in einem Garten arbeitete, nach Niederkoblitz und aufs Geratewohl auch nach dem Hause Nr.16.
Als Antwort kam eine Frage: “Wos wollns‘n ei dan Heisla?“ Ja, was wollte ich in dem Häusel? Wie sollte ich das einem Wildfremden, einem Bauer, erklären? Für Familienforschung würde er wohl wenig Verständnis haben. So tat ich nach seinem Beispiel und antwortete auch mit einer Frage:
“Warum fragen Sie?“ Diesmal war die Entgegnung überraschend:
“Wal ich aus dan Heisla herstamm “So? ... Wie heißen Sie denn? “Brosche haß ich“
Nun konnte ich mehr sagen:
“Brosche? Dann sind wir ja verwandt. Mein Großvater Franz Brosche stammt auch aus dem Häusel.“
“Su . . . su .“
Mehr war aus dem neu gefundenen Vetter nicht herauszuholen. Er lud uns auch nicht zum Näher treten ein. Und so gingen wir weiter.
Wir fanden es bald, das Häusel Niederkoblitz Nr.16. Ein Umgebindehaus im nordböhmischen Stil. Eine Pawlatsch im ersten Stock führte zu dem kleinen Kabinett, das den freien Fall auf den Düngerhaufen ermöglicht.
Meine gute Karoline stand versonnen vor dem bäuerlichen Märchen:
“Wie oft mag Deine Urgroßmutter diesen Weg gewandelt sein“?
Als ich grinste, nannte sie mich einen Zyniker.
Das war meine erste und letzte Reise auf den Spuren der mütterlichen Ahnen. Zu weiteren kam ich nicht, weil das Dritte Reich zu uns kam und meine ganze Freizeit in Anspruch nahm. Einen Ersatz für dieses Versäumnis gab mir das Reich aber doch mit dem Ariernachweis. Der Briefwechsel mit den Pfarrämtern, der Austausch von Daten mit Verwandten brachte wieder einiges Neue und so kann ich eine leidliche mütterliche Ahnenreihe aufstellen. Freilich meist nur trockene Daten und Zahlengerüste ohne die Anfüllsel, die meine väterliche Reihe beleben.
Immerhin ist aus dieser Tafel von Zahlen und Namen einiges Wichtige zu entnehmen:
1. Diese mütterlichen Ahnen lebten in sechs Ortschaften und den Geltsch: Techobusitz, Zierde, Maschkowitz, Niedernösel, Krzeschitz (oder Krzeschov) und Niederkoblitz.
2. Der mütterliche Mannesstamm, die Fiedler, sitzt fest auf seinem Erbe, der Wirtschaft Nr.10 in Techobusitz, der väterliche, die Brosche, wechselt in drei Generationen von Niederkoblitz über Zierde nach Techobusitz.
3. Diese Brosches sind tüchtige Leute, zum mindesten im Heiraten. Denn vom Niederkoblitzer Häusler Josef Brosche zum Kleinbauern Franz Brosche d. A. in Zierde war ein guter Schritt und vom Kleinbauern Franz Brosche d.J. zum Techobusitzer Bauern sogar ein großer Sprung getan im Aufstieg der Familie Brosche.
Sonst weiß ich über diese Ahnen nichts zu sagen. Meine Geschichte beginnt erst mit
Franz B r o s c h e II
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(Bild 21), meinem Großvater, Vater meiner Mutter. Freilich weiß ich auch über ihn nichts aus eigener Erfahrung, denn ich habe ihn ebenso wenig persönlich gekannt wie den Thaddäus und bin auch hier auf fremde Mitteilungen und einige wenige eigene Schlüsse angewiesen.
Franz Brosche II wurde am 17. März 1813 in Zierde (Haus Nr.15) geboren. Seine Schulbildung dürfte über die Dorfschule (Lewin ?) nicht hinausgegangen sein und diese Dorfschulen waren um 1820 recht mangelhaft, die Lehrer meist Laien (siehe Sangerberg), Küster, ausgediente Soldaten u.ä.m. Trotzdem zeigen die Gebetbücher, die Franz Brosche später schrieb und um einen Gulden verkaufte, eine gute, an den Duktus des alternden Goethe erinnernde Handschrift und waren mit bäuerlich-bunten Initialen geschmückt.
Er soll auch als Wandennusikant Verdienst gesucht haben. Wenn ich hier sage “er soll“ ‚ so meine ich damit eine dunkle Erinnerung, die auch irrig sein kann, also keinesfalls verbürgt ist.
Sein Aufstieg begann mit seiner Einheirat in den Techobusitzer Klügelhof, so benannt nach einem früheren Besitzer, durch die Ehe mit der Bauerntochter Theresia Fiedler. Hier gewann er die Plattform, auf der er seine Begabung entfalten konnte. Er war vielseitig begabt: Klugheit, Sparsamkeit, Härte, Zähigkeit und Nüchternheit. Wo diese Eigenschaften zusammentreffen, da kann der Erfolg nicht ausbleiben. Und die Erfolge zeigten sich bei Franz Brosche sehr bald.
Schon als junger Bauer wurde er Gemeindevorsteher, blieb es 50 Jahre lang und wurde dafür mit dem Franz-Josefs-Orden ausgezeichnet. Die Wirtschaft wuchs, er stieg in den Hopfenbau und Hopfenhandel ein, wurde Schwiegervater des reichen Hopfenhändlers Leonard Tanzer (meines Vaters), baute ein großes Haus in Leitmeritz (Brosches Gasthof in der Langen Gasse), stattete beide Töchter reichlich aus, kaufte (siehe an anderen Stellen dieser Geschichte) die Sangerberger Wirtschaft und hinterließ, als er im Jahre 1897 mit 84 Jahren starb, neben seinem Grund- und Hausbesitz noch ein Barvermögen von fast 100 000 Gulden, was in heutiger Währung umgerechnet einer guten Million DM entspricht.
Ich erwähnte seine Härte. Ja, er war hart und gar kein Gemütsmensch:
Als seine ältere Tochter Anna einen “Fehltritt“ tat, da zwang er Sie zum Verzicht auf den Liebsten , einen anständigen, aber armen Menschen, und zur Heirat mit einem reichen Schwachsinnigen, dem Michelbauer in Werbitz.
Seine erste Frau, die Fiedlertochter, starb bald nach der Geburt des zweiten Kindes (meiner Mutter) in den Vierzigerjahren und liegt auf dem Pitschkowitzer Friedhof begraben. Franz Brosche heiratete dann eine Base seiner ersten Frau, eine Bauerntochter Weigel aus Maschkowitz, einem Nachbarort von Techobusitz (Bild 22). Mit ihr hatte er keine Kinder mehr. Diese zweite Frau habe ich noch kurz vor ihrem Tod (1898) kennen gelernt. Sie war sehr lieb zu mir und schenkte mir bei diesem Besuch einen Silbergulden.
Die Nachkommen Franz Brosche II und seiner Frau Theresia Fiedler
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Franz Brosche hatte mit seiner ersten Frau, Theresia Fiedler, zwei Töchter, mit der zweiten keine Kinder. Diese beiden Töchter waren Anna Brosche (Bild 23) und meine Mutter Franziska Brosche.
Über Tante Anna sagte ich schon, daß ihr Vater sie wegen eines “Fehltrittes“ hart anfaßte: Er verheiratete sie an einen reichen, aber schwachsinnigen Bauern Michel in Werbitz. Diese Tante Anna war nach den Erzählungen meiner Brüder Leo und Moni eine gescheite und prächtige Frau, die in der Ehe mit dem wohl gutmütigen, aber kümmerlichen Mann wenig Freude und viel Leid erlebte.
Die Folge des Fehltrittes war eine Tochter Karoline, eine wertvolle Frau vom Schlage ihrer Mutter, verheiratet mit einem ebenso wertvollen Mann, dem Müller Franz Garle. Sie betrieben die Werbitzer Mühle und etwas dazugehörige Landwirtschaft.
Das Ehepaar Garle hatte fünf Töchter: Anna, Hermine Karoline, Rosa und Adele. Anna heiratete einen Bauern (Rausch) und bekam die Werbitzer Wirtschaft ihrer Großeltern Michel und heiratete nach dem Tode des Franz Rausch noch einmal. Sie hatte Kinder, aber ich weiß nichts über sie. Hermine heiratete den Prager tschechischen Lehrer Fort, einen riesigen und freundlich-herzlichen Mann. Aus der Ehe kamen mehrere Söhne. Ich habe aber nicht mehr über sie erfahren, als daß einer zur Zeit der Austreibung in der Zahortsche aufkreuzte, sich dort als Fanatiker aufspielte und gar nicht verwandtschaftlich benahm. Karoline war mit dem Bauzeichner Reibestein verheiratet. Reibestein starb in jungen Jahren an Tuberkulose, ebenso der einzige Sohn Emil aus dieser Ehe. Karoline überlebte noch die Austreibung und starb in Prag bei ihrer Schwester Hermine im Jahre 1960. Rosa war mit einem Bahnbeamten verheiratet.. Der einzige Sohn aus dieser Ehe ist im zweiten Weltkrieg gefallen. Adele war auch einige Zeit verheiratet, aber der Mann hat sie bald verlassen. Im Alter litt sie an Krebs. Der Tod bei einem Bombenangriff auf Aussig hat ihr wohl viel Leiden erspart. Ihre Leiche hat man angeblich nicht gefunden.
Mit den Müllersleuten Garle hielten wir gute Verwandtschaft, aus Neigung und wegen des gemeinsamen Erbanteils am Leitmeritzer Broschehaus (Lange Gasse, neben der Kapuzinerkirche). Die allmonatlichen Zusammenkünfte zur Teilung der Einnahmen und Ausgaben verliefen immer reibungslos. Ich war oft dabei und habe nie ein hartes Wort gehört, geschweige denn einen Streit erlebt.
Die Mühle war sehr gastfreundlich. Ich verbrachte dort viele schöne Ausflugs- und Ferientage.
Franziska T a n z e r ‚ geborene Brosche, 1844 — 1917
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Auch hier muß ich wiederholen, was ich schon bei der Schilderung meines Vaters einleitend sagte : Ich habe sie eigentlich erst in späteren Jahren erlebt, als freundlich, schwache Matrone, die mich, ihren Jüngsten von 12 Kindern, verzärtelte und meinem Ungestüm nicht mehr gewachsen war. Deshalb muß ich auch ihre Charakterisierung auf die Berichte meiner älteren Geschwister stützen.
Franziska Tanzer hatte, weil Töchter meist nach dem Vater geraten, einige Eigenschaften ihres Vaters geerbt, die sich aber bei ihr weiblich-mütterlich milderten. Sie war in jüngeren Jahren sehr tüchtig und streng bei der Erziehung ihrer Kinder, eine ausgezeichnete Hausfrau und Köchin, aber sie hatte zu wenig Verständnis für den Schwung des Gatten und. den Betrieb des weltweiten Geschäftes, als daß sie dem Manne hätte beratend zur Seite stehen und ihn auch zügeln können.
Und als sie mit den Resten des väterlichen Energieerbes zu retten versuchte, was noch zu retten war: einen Teil der Tanzergründe hinter dem Rücken des Vaters (siehe oben) an den “Fürsten verkaufte“, da gab es einen argen Zwist und weiteren Riß in dieser Ehe zwischen zwei wenig harmonisierenden Partnern. Mit diesem Verkauf rettete unsere Mutter wohl einen Teil des Sangerberger Besitzes, zerstörte aber mit dem Eingriff in Vaters eigenwillige Heimatliebe den Rest ihrer Ehe. Die beiden lebten fortan nur neben einander. Was blieb, war altargeschworene Pflicht. In dieser Hinsicht ist ihr kein Vorwurf zu machen.
Sie war sehr fromm. Wenn sie auch wenig in die Kirche ging, so lebte sie doch streng nach den Zehn Geboten und jeden Abend sah ich sie mit bewegten Lippen beten.
Im Alter war sie schwach, nicht nur in meiner Erziehung, sondern auch in der Behandlung der anderen Kinder und der Enkel. Wer ihr nahe war, bekam Recht, wer zuletzt kam, behielt Recht. Aus dieser Unschlüssigkeit ist zwischen den Geschwistern und Enkeln allerlei Zwist entstanden.
Ihre Altersjahre verbrachte sie in Leitmeritz und starb nach langem und qualvollen Krebsleiden im Mai 1917. Wir haben sie in der Familiengruft auf dem Pitschkowitzer Friedhof beigesetzt.
Alle, die sie kannten, besonders ihre Nachkommen, halten sie in gutem Andenken.
Die Ehe Leonard und Franziska Tanzer
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Nach der ausführlichen Schilderung meiner Eltern, zweier so verschiedener Menschen, drängt sich dem Leser wohl die Frage auf, wie diese Ehe zustande kam und wie sie verlief.
Die Frage ist leicht gestellt, aber schwer zu beantworten, weil in einer Ehe Antriebe und Hemmungen mitwirken, die nur die Beteiligten kennen. Wir anderen sind auf Beobachtungen, Vermutungen und Gerüchte angewiesen. Mit dieser Einschränkung will ich eine Deutung versuchen.
Schon in meiner frühen Jugend fiel mir auf, daß meine Mutter den Vater nie beim Vornamen nannte, sondern immer nur “Du“ sagte. Auch der Vater blieb meist bei diesem bloßen “Du“, rief aber doch gelegentlich “Fanny“, freilich sehr selten und nur bei wichtigen Anlässen.
Das fiel mir, wie schon gesagt, auf, weil es abstach gegen das, was ich in anderen Familien sah und hörte, aber ich machte mir wenig Gedanken darüber. Erst später suchte ich eine Erklärung dieses ungewöhnlichen Brauches und darum las ich aufmerksam in der Zeitschrift Constanze (Nr.16/58), daß ein Ehemann sich über dieses “Du“ beklagte und fragte, was er dagegen tun könne.
Constanze antwortete tröstend mit folgender Begründung: “Die Psychologen sagen: Vielleicht ist dieser eine Vorname von kleinauf anderweitig besetzt oder durch ein bestimmtes Kindheitserlebnis gesperrt, vielleicht sträubt man sich auch dagegen, den Partner mit einem Namen anzureden, der einem vielleicht nicht halb so gut gefällt wie der dazugehörige Mensch. Es ist auch möglich, daß eine vom Unterbewußtsein herwirkende Kontakthemmung den Weg vom “DU“ zum Namen noch nicht endgültig freigegeben hat.“
Nun, alle diese spitzfindigen tiefenpsychologischen Erklärungen durften im Falle meiner Eltern kaum zutreffen. Und so vermute ich, daß Mangel an Zuneigung und trübe Erfahrungen die Mutter hemmten und der Vater aus Stolz oder Eigensinn in derselben Zurückhaltung beharrte.
Für diese Deutung sprechen außer den Charakterverschiedenheiten, die ich schon beschrieben habe, noch zwei Umstände:
Ein Brief, den ich in meiner Belegsammlung hatte. Es war eigentlich nur ein Brieffetzen, sichtlich in großer Erregung geschrieben: die Aufkündigung jeder ehelichen Gemeinschaft. Wann die Mutter diese Zeilen geschrieben hat, steht nicht fest, denn der Brief trug kein Datum. Aus der Schrift und einigen Bemerkungen meiner Geschwister vermute ich, daß er aus der Spätehe stammt.
Und: Eine meiner Schwestern, ich glaube, es war Hermine, behauptete, unsere Mutter habe als Mädchen einen Förster geliebt, aber ihr Vater sei gegen diese Verbindung gewesen. Wenn das stimmt, dann kann man in Erinnerung an das Los der Tante Michel wohl vermuten, daß auch unsere Mutter keine freie Wahl hatte und die Verbindung unserer Eltern keine Liebesehe, ja kaum eine Neigungsheirat gewesen sei.
Aber wie dem auch sei: Wir Kinder danken dieser Verbindung etwas sehr Wichtiges. Sie brachte frisches Blut in die inzüchtige Tanzerfamilie, neues gutes Bauernblut, das sich gleich in der nächsten Generation günstig auswirkte: zwar weniger bei den Töchtern, denn die “schlagen“ ja mehr nach dem Vater, wohl aber auf die Söhne:
Wir wurden alle älter als unsere väterlichen Vorfahren: Leo (69), Franz (74), Moni (85) und ich bin auch schon 77 Jahre alt.
Die Nachkommen des Leonard Tanzer und der Franziska Brosche
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Über diese Nachkommen könnte ich ein dickes Buch schreiben, Selbsterlebtes und Miterlebtes. Eine solche Breite würde aber die Familiengeschichte einseitig aufblähen und das Gleichgewicht meines Berichtes stören. Auch hemmt mich die Möglichkeit, daß ich irgendwo anecke. Ich beschränke mich deshalb auf die Hauptsachen und Daten und überlasse es den Nachkommen, der nächsten Generation, ihren Teil selbst auszubauen. Meine Arbeit endet mit den Enkeln des Leonard Tanzer und der Franziska Brosche.
Meine Angaben sind trotz umfangreichem Briefwechsel unvollständig und manchmal auch ungenau, weil meine Anfragen nicht immer Erfolg hatten. Wenn ich diese kleinen Mängel auch noch beheben wollte, dann würde meine Familiengeschichte wahrscheinlich nie fertig, denn ich stehe schon im 77. Lebensjahre und wer sollte, wollte und könnte nach mir diese Schlußarbeiten übernehmen.
Trotzdem ich dieses letzte Kapitel mehr sachlich halten mußte, haben mich bei der Niederschrift doch starke Gefühle bewegt: Freude und Wehmut. Freude, weil ich sehe, wie der Abstieg der beiden Generationen nach Thaddäus Tanzer allmählich stoppt und die dritte und vierte Generation zum Wiederaufstieg drängt, den ihnen der starke Thaddäus Tanzer vorgelebt hat. Wehmut, weil in diesem Zug des Wiederaufstiegs so viele, vielleicht die Fähigsten fehlen.
Die Opfer der beiden letzten Kriege :
- Leo Ullrich
- Otto Mehnert
- Leo Tanzer
- Gustav Ludwig
- Josef Hahn
- Franz Stiebitz
- German Pöpperl
- Edmund Altmann
Doch: Über das familiäre Bedauern hinaus wollen wir auch an das tragische Geschick dieser Unvollendeten denken und ihnen einen Platz in unseren Herzen bewahren.
Aus der Ehe des Leonard Tanzer und der Franziska Brosche sind zwölf Kinder hervorgegangen:
- Franziska
- Franz
- Hermine
- Leontine
- Rosa
- Frieda
- Hansi
- Leo
- Moni
- Alexandrine
- Karla
- Bruno
Franziska Tanzer (1866 — 1890)
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Sie war die schönste unter den zwölf Geschwistern. Das Bild zeigt diese Schönheit deutlich. Es läßt auch erkennen, was mir über sie berichtet wurde: wie gütig, klug und vornehm sie war. Diese Eigenschaften bewies sie besonders in ihrer Krankheit. Ein Leiden, das die Ärzte weder erklären noch heilen konnten, hatte die junge Frau wenige Jahre nach ihrer Heirat erfaßt und langsam getötet. Schwester Hermine hat sie lange gepflegt und uns oft erzählt, wie geduldig und gefaßt die Kranke ihre Schmerzen ertrug, immer darauf bedacht, niemand zur Last zu fallen.
Franziska, in der Familie Fanny genannt, war verheiratet mit dem Saazer Hopfenhändler Albert Wetzler (Bild 28). Wetzler stammte mütterlicherseits aus der französischen Emigrantenfamilie Bournonville. Er war ein großer schöner Mann, vornehm, gebildet und sehr musikalisch (1854 - 1915).
Aus der Ehe kamen zwei Kinder: Paula und Franziska (Fannerl, Bild 29). Paula starb schon im Jahre 1899 mit zwölf Jahren, Fanneri (Bild 30) heiratete 1910 den Professor der technischen Hochschule Charlottenburg Prof .Dr. tech. Karl Brabbee (1879 — 1960, Bild 31). Die Brabbees hatten zwei Kinder Rolf und Lotte.
Die Familie übersiedelte in den zwanziger Jahren nach Amerika.Die beiden Kinder heirateten dort. Der Vater Karl Brabbee starb (1960), die Witwe (Fannerl) lebt in Florida.
Franz Tanzer (1867 — 1939)
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Franz wurde als Kaufmann ausgebildet (Klagenfurt, Graz), heiratete 1900 die Tochter Sophie (geb.1879) des Sangerberger Sägemüllers und Hopfenhändlers Hyazinth Kohl, übernahm die väterliche Wirtschaft in Sangerberg (Nr.165), mußte sie aber schon 1910 verkaufen, übersiedelte nach Saaz, war dort bei der Firma Paulus angestellt und starb im Jahre 1939 an Altersschwäche. Seine Witwe Sophie (Bild 32) lebt, über 80 Jahre alt, gesund und rüstig, bei ihrer ältesten Tochter Edeltrud in Dentlein am Forst bei Feuchtwangen. Aus der Ehe des Franz Tanzer und der Sophie Kohl kamen fünf Kinder: Edeltrud, Elfriede, Elisabeth, Albert und Leonard.
Edeltrud (Trude) besuchte die Handelsschule in Saaz. Als die Eltern in Not kamen, gabe sie das Studium auf und ging als Erzieherin in Stellung. Sie lebt heute mit ihrer Mutter in Dentlein am Forst. Edeltrud ist 1901 geboren (Bild 33).
Elfriede (1905 - 1948) war, obwohl verwachsen, ein heiteres und gescheites Mädel, überall beliebt und als Reisebegleiterin begehrt. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Modistin und Reisebegleiterin. Sie starb und ruht in Dentlein am Forst (Bild 34).
Albert, nach seinem Paten Albert Wetzler getauft, starb schon als zwölfjähriges Kind im Jahre 1919.
Leonard IV (Leo, Bild 35), geb. 1909, besuchte das Saazer Realgymnasium und die Präger technische Hochschule, machte den zweiten Weltkrieg im Norden mit, heiratete (1943) die Wienerin Anna Dostal (geb. 1916, Bild 36) und lebt heute in Seewalchen am Attersee/Oberösterreich. Er ist nicht nur ein tüchtiger Architekt, sondern auch ein guter Turner und Sportler.
Elisabeth (Liesel), geb. 1915, ist seit 1942 mit dem Steueroberinspektor Josef Fischer verheiratet. Sie leben im eigenen Hause in Ansbach mit einer Tochter Traudl und der Mutter Fischer (Bild 37).
Hermine Tanzer (1869 — 1932)
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Sie war wohl die Wertvollste von allen Tanzer Geschwistern und ich greife nicht zu hoch, wenn ich sie einen edlen Menschen nenne. Sparsam und großzügig, selbstlos und bescheiden, lebte sie immer nur für andere, besonders für ihre Kinder, Eltern und Geschwister und verlangte nichts für sich. Erschütternd, wie sie auf ihrem letzten Krankenbett die Krebsechmerzen verbarg, um ihre Umgebung nicht zu betrüben und zu stören. Sie war verheiratet mit dem Josefthaler (Josefstahl bei Jungbunzlau) Postmeister August Ullrich (1831- 1910, Bild 39), einem gediegenen alten Herrn, der sehr musikalisch war und gesund nach Kneipp lebte. Diese Lebensweise mag auch erklären, daß aus dieser Ehe trotz des großen Altersunterschiedes der Gatten noch 5 Kinder hervorgingen: Gertrud, Agnes, Leo, Hildegund und Helene. Nach der Pensionierung August Ullrichs 1901 übersiedelte die Familie nach Leitmeritz. Dort sind auch die Eltern gestorben und begraben.
Gertrud (geb.1892, Bild 39, 41) besuchte die Lehrerinnenbildungsanstalt der Ursulinerinnen in Reichenberg, war kurze Zeit Lehrerin in Baden bei Wien lernte dort ihren späteren Gatten kennen und heiratete ihn 1917. Otto Mehnert (1884-1950, Bild 42) war Mühlenbauer, Ingenieur, Landwirt und Müller in Lauban/Schles. (Kinder: Hildegund, Werner genannt Hannes, Otto, Gertrud).
Gertrud Mehnert, geb. Ullrich, ist eine starke und klar ausgeprägte Persönlichkeit,die großzügig im Religiösen wurzelt. Uber sie wäre viel zu sagen, mehr als ich in diesem knappen Bericht schreiben kann. Ich überlasse und empfehle den Nachkommen, das Bild dieser ungewöhnlichen Frau zu zeichnen. Daß auch ihr Mann kein Dutzendmensch war, das weiß ich, aber ich weiß zu wenig über ihn und muß darum auch diese Schilderung den Nachfahren anheim stellen.
Agnes Pokorny, geb. Ullrich (1893-1962, Bild 39, 40, 43) wurde als Modistin ausgebildet, heiratete 1913 den Dr. Pokorny (Bild 44), Professor an der Aussiger Staatsgewerbeschule. Prof. Prokorny stammte aus der Zahortschmühle bei Leitmeritz und war mit uns weitläufig durch die Werbitzer Garles verwandt. Er machte den ersten Weltkrieg und auch einen Teil des zweiten als Artillerieoffizier mit und hat über seine Erlebnisse im ersten ein gutes Tagebuch geschrieben. Es ist leider bei der Austreibung zurllckgeblieben. Dr. Poknrny war hochintelligent und gebildet‚ ausübender Musikfreund (Klavier, Orgel‚ Wagner‚ Bruckner)‚Maschinenbauer und bedeutender Mathematiker. Wer ihn nicht näher kannte, merkte aber wenig von diesen Gaben, denn er tat sich nie hervor, war bescheiden. So bewältigte er das schwierige vierbändige mathematische Werk von Serret, sagte aber nie, daß er es durcharbeite, nein, er las nur darin. Zum Dr. tech. promovierte er in Prag 1913 mit der Erfindung eines Apparates zur Ausbalancierung rotierender Wellen und noch im Alter von 75 Jahren konstruierte er eine Hopfendarre mit einer Patentschrift, worin es von Differenzialen und Integralen nur so wimmelte. Nach dem ersten Weltkrieg zog er sich als Pensionist auf die väterliche Mühle zurück, Ruhebedürfnis und Heimatliebe. Seine Frau Agnes hat sich dort zu einer tüchtigen Bäuerin und Müllerin entwickelt. Die beiden waren vornehme Gastgeber und haben uns Verwandten in den Nöten der Kriegs- und Nachkriegszeiten viel geholfen. Nach der Austreibung ließen sie sich in Weihmichl bei Landshut nieder. Dort ist Adolf 1960 im 80. Lebensjahr gestorben. Agnes starb zwei Jahre später bei ihrer Tochter Margarete. Beide ruhen auf dem Friedhof in Landshut. Die Pokornys hatten zwei Kinder: Margarete und Walter.
Margarete (geb.1914, Bild 40) maturierte in Leitmeritz, studierte in Prag
Medizin und lebt heute als Ärztin in Bamberg. Sie war zweimal verheiratet. Zuerst mit Dr.Herwig Sedlmayer, dann mit ihrem vetterlichen Onkel Franz Stiebitz. Die Tochter aus dieser Ehe studiert in Erlangen.
Walter (geb. 1918) maturierte in Leitmeritz, besuchte anschließend die Prager technische Hochschule und fiel 1942 in Rußland. Er war ein hübscher, gescheiter und lieber Kerl, den alle gern hatten.
Leo Ullrich (1896 - 1917 Bild 39, 47) war ein begabter, ruhiger und allgemein beliebter Junge. Er maturierte an der Leitmeritzer Real schule, studierte an der technischen Hochschule in Prag, rückte 1915 als Einjährig-Freiwilliger zur Artillerie ein und fiel 1917 in Italien. Dieser Tod traf die Familie schwer, besonders die Mutter Hermine, weil dahinter ein bösartiges Schicksal zu walten schien: Leos Batterie sollte eine neue Stellung beziehen und der Hauptmann diese Stellung mit dem diensthabenden Offizier erkunden. Der Hauptmann nahm aber statt dieses Offiziers unsern Leo mit, weil er ihn sehr gern hatte und das ruhige Gelände keine Gefahr befürchten ließ. Die Rekognosziemung verlief auch ungestört, aber dann hörten die beiden das bekannte Sausen und warfen sich zu Boden. Leo stand nicht mehr auf, ein einzelnes, wohl verirrtes Geschoß, hatte ihn getötet. Zehn Jahre später hat die Mutter sein Grab besucht. Ein höflicher italienischer Offizier führte sie und das Grab war gepflegt. Erst nach diesem Erlebnis hat sich Hermine irgendwie mit dem Unglück abgefunden, sprach weniger über Leo und ruhiger wie von etwas Fernen.
Hildegund (geb. 1901 in Leitmeritz, Bild 39, 45) besuchte das Leitmeritzer Gymnasium, studierte in Prag Pharmazie, war dann in der Leitmeritzer Adler-Apotheke tätig, heiratete 1926 den Prof.Edmund Altmann (Bild 46), gab mit ihm eine gute Rätselzeitung heraus, Übersiedelte 1937 nach Aussig, weil Edmund inzwischen an der dortigen Handelsakademie angestellt worden war. Prof. Altmann mußte im Frühjahr 1943 einrücken, kam nach Rußland und wurde im Dezember 1943 als vermißt gemeldet. Dann haben wir nichts mehr über ihn gehört. Nach der Austreibung kam Hilde mit ihrem Sohn Ulrich, in der Familie kurz Uli genannt, nach Amberg. Tat zehn Jahre Dienst als Magistra in der Daig-Apotheke und lebt jetzt mit Schwester Helene in einem schönen Eigenheim in Amberg. Dem Sohn hatte man aus Pietät den alten Familiennamen als Taufnamen (Ulrich) gegeben. Er hat in Amberg maturiert, studierte dann in München Mathematik, ist jetzt wissenschaftlicher Assistent an der Müchner Universität und hat begründete Aussicht auf die Hochschullaufbahn. Er ist, wohl ein großelterliches Erbteil, sehr musikalisch.
Helene Ullrich (geb. 1906, Bild 39, 48, 72) hat an der Leitmeritzer Realschule maturiert, den Abiturientenkurs an der Aussiger Handelsakademie besucht und war dann in mehreren großen Firmen als Korrespondentin und Sekretärin tätig. Nach der Austreibung führte sie zuerst den Haushalt ihrer Schwester Hilde und kam dann zu Siemens. Heute ist sie Leiterin der Personalabteilung des Amberger Werkes. Auch sie ist, ein elterliches Erbteil, musikalisch.
Leontine Tanzer (1870 — 1934)
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(Bild 26)
war verheiratet mit dem Sangerberger Bauern und Hopfenhändler Adam Roth (1862 - 1945, Bild 49, Hausnamen Hartesadam). Die beiden lebten zuerst auf dem väterlichen Hof des Mannes, auf dem Harteshof, später auf dem Kloiberhof neben dem Thaddäsenhof. Tina, wie diese Schwester in der Familie hieß, war nicht so begabt wie ihre Geschwister, aber sehr gütig und gutmütig. Trotzdem sie den größten Teil ihres Lebens in Sangerberg verbrachte, hat sie die dortige Mund art nie erlernt und, wenn sie‘s doch einmal versuchte, nur ein schiefes Hochdeutsch zustande gebracht. Sie ist 1934 an Krebs gestorben.
Aus der Ehe Adam und Leontine Roth stammen zwei Töchter: Rosa (geb. 1896, Bild 50), verheiratet mit Anton Lechner (gest. 1959) und Paula (geb. 1900, Bild 51), verheiratet mit Anton Hübner. Beide leben jetzt in München. Rosa hat eine Tochter, Paula einen Sohn. Der Vater Adam Roth lebte nach der Austreibung bei den Töchtern bis zu seinem Tode (1945). Er starb im 82. Lebensjahr.
Rosa Tanzer (1873 — 1941)
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Sie war sehr begabt, besonders in Musik und Zeichnen, temperament voll und gescheit, ähnlich dem Vater im Guten wie im Schlechten und darum wohl auch sein Liebling. Aus ihr hätte allerhand werden können, wenn nicht der Niedergang der Firma Gebrüder Tanzer ihre Ausbildung gehemmt und schließlich abgebrochen hätte.
Sie heiratete (Bild 52) den Sangerberger Hopfenhändler German Pöpperl (1864 - 1906) und betrieb mit ihm die Brunnerwirtschaft (aus der unsere Großmutter, die Frau des Thaddäus stammte), den zugehörigen Kaufladen, das Hopfengeschäft und eine Versicherungsagentur. German starb bald an Tuberkulose. Rosa arbeitete allein weiter. Während einer Geschäftsreise brannte ihr Hof ab, wahrscheinlich durch Brandstiftung. Zu allem Unglück hatte der Geschäftsführer trotz Rosas Auftrag vergessen, den Versicherungsvertrag zu erneuern. Und so mußte sie den Wiederaufbau aus eigenen und unzureichenden Mitteln bestreiten.
Rosa heiratete in zweiter Ehe den Pflastermeister Josef Rupert (Bild 53), einen anständigen und arbeitsamen Mann, der auch den Stiefkindern ein guter Vater wurde, ja sie oft besser behandelte als seine eigenen. Trotz Fleiß und Sparsamkeit konnten die beiden den großen Brunnerhof nicht halten, weil die Folgen des Brandes noch auf ihm lasteten. Sie verkauften ihn deshalb und erstanden für den Erlös den kleineren Harteshof der Schwester Tina und zogen später auf den Windbühl in das erste Haus der ersten Reihe, Haus Nr.110, ein kleines, aber sehr schönes altes Holzhaus. Dort ist Rosa 1941 gestorben. Der Mann Josef, in der Familie nach Sangerberger Brauch Pepp genannt, kam nach der Austreibung im Jahre 1945 mit den Kindern nach Michelau, wurde von seinen Töchtern Marie und Drinel liebevoll betreut und starb 1960 im 85. Lebensjahr.
Über diesen Schwager muß ich noch einiges sagen, denn er war bei aller Einfachheit ein prächtiger Mensch. Am besten kennzeichnen ihn die folgenden zwei Aussprüche:
Im ersten Weltkrieg wohnte meine damalige Braut in Sangerberg, weil anderwärts die Lebensmittel knapp oder doch schwer zu bekommen waren. Ich wollte für Maria eine Ziege halten und bei Pepp einstellen. Seine Antwort: „Du brauchst koa Ziech; sua long mia was zan Essen hom, wiad die Dei a neat vahungan.“
Im zweiten Weltkrieg war ihm ein französischer Kriegsgefangener zugeteilt worden. Die Ruperts kamen mit dem Mann, gut aus, behandelten ihn anständig und er aß mit uns am Tisch. Das beanstandete ein Parteifunktionär. Der Gefangene solle im Stall essen. Darüber gab es eine scharfe Aussprache. Pepp beendete sie mit den Worten: “I wir Ihna was sog’n: der Moa orwat mit mia, der frißt a mit mia. Habe deehre;“ auf dieses“ Habedeehre “ vergaß auch der Funktionär seinen Hitlergruß und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Aus Rosas Ehe mit German Pöpperl stammten fünf Kinder: Ernestine, Leontine, Hertha, Erwin und German.
Ernestine starb als kleines Kind
Leontine — in der Familie Tinerl genannt, geb. 1895, (Bild 52, 54, 55) heiratete 1920 in Sangerberg den Müller und Bauern Albin Sterzl (geb. 1891) und betrieb mit ihm in Karlsbad ein Lebensmittelgeschäft. Sie brachten es durch Fleiß und Sparsamkeit zu Wohlstand und sollen jetzt nach der Vertreibung wieder in guten Verhältnissen leben. Kinder: Hans und Josef.
Hertha (geb. 1898, Bold 52, 54, 57) heiratete in Sangerberg den ehemaligen Geschäftsführer des Deutschen Hauses in Prag, den Sangerberger Josef Hahn (Hausname: Muckelpepp, geb. 1895, Bild 58). Die beiden betrieben in Sangerberg eine Pension “Landhaus“, übernahmen später die Aussiger “Turnhalle“ in Pacht. Nach der Austreibung siedelten sie sich mit den anderen Verwandten in Michelau an und betätigten sich dort erfolgreich in der Korbwarenindustrie. Dort ist auch Pepp an einem Herzleiden gestorben.
Die Hahn‘s hatten zwei Kinder: Der Ältere, Josef, ist in Stalingrad geblieben, Walter, ein geschäftliches Talent, hat sich in Michelau als Korbwarenfabrikant hoch gebracht und wird es sicherlich noch weiterbringen.
Erwin Pöpperl (geb. 1902, Bild 54) ist verheiratet mit Gisela Hahn, einer Schwester Josef Hahns und Witwe nach dem Sangerberger Bäcker meister Franz Kraft. Erwin war Teilhaber seines Bruders German im Aussiger Papiergeschäft. Nach der Austreibung lebte er in Michelau und hat jetzt ein Papiergroßgeschäft in Lichtenfels. Zwei Kinder: Horst und Ursula.
Horst arbeitet im väterlichen Geschäft, Ursula hat eine Handelsschule besucht und ist inzwischen verheiratet.
German Pöpperl (1903 - 1954, Bild 54, 60) war ein geschäftliches Talent, wenn nicht gar ein Genie. Schon mit 14 Jahren, als sein zweiter Vater im Kriege war, führte er die Sangerberger Wirtschaft. Dann lernte er in einem Aussiger Papiergeschäft (Reinisch, Große Wallstraße), kam dort hoch, machte sich trotz verlockender Angebote der Firma Reinisch selbständig und war schon in jungen Jahren der führende Papierhändler in Aussig. Ende der dreißiger Jahre galt er schon als Millionär. Im Kriege und bei der Austreibung muß er allerlei Abenteuerliches erlebt haben. Einmal, als er krank zu Bettelag, erzählte er mir zwei Stunden lang über diese Zeiten. Ich habe aber, mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt, davon wenig mehr als einen Gesamteindruck behalten. Die Austreibung hat ihm viel genommen, Gut und Geld, aber eines konnte sie ihm nicht nehmen: sein Talent. Und dieses Talent brachte ihn bald wieder hoch, aber die Kräfte verzehrenden Spannungen der letzten Jahre hatten ihn doch stark mitgenommen und haben ihn schließlich überwältigt. Er erschoß sich in einer Anwandlung von Trübsinn. German Pöpperl war verheiratet mit Toni Winter (geb.1911, Bild 61). Aus dieser Ehe kamen drei Kinder: German, Erwin und Christine.
German führt das väterliche Geschäft, Erwin ist in einer Eiergroßhandlung und Christine als kaufmännische Angestellte tätig.
Kinder aus Rosas zweiter Ehe mit Josef Rupert: Marie (in der Familie Maritsch, Ritschi, auch ganz kurz Ritsch genannt), Alexandrine (Drinl), Elisabeth (Liesel) und Anton (Toni).
Ritschi (Bild 62) ist gelernte Köchin und war immer in Großbetrieben beschäftigt, im Sudetenland und nach der Austreibung auch hier im Bundesgebiet. Jetzt lebt sie als Pensionistin mit ihrer Schwester Drinl und den Nichten eine hilfreiche Tante im Eigenhaus in Michelau (Oberfranken).
Drinl (Bild 63) hat schneidern gelernt und war in Karlsbad mit Ferdinand Frank verheiratet. Frank ist an Kriegsfolgen in jungen Jahren gestorben. Aus der Ehe stammen zwei Mädchen: Christa und Margot. Drinl ist eine vorbildliche Mutter und war, wie auch Ritsch, eine gute Tochter. Sie hat gemeinsam mit Ritsch ihrem Vater Josef Rupert ein schönes Alter bereitet und mit Zurückstellung eigener Wünsche alles getan, ihre Kinder gut zu erziehen und ihnen den Weg ins Leben zu ebnen. Beide sind bereits in guten Stellungen.
Liesel (geb.1913) hat geheiratet (Ferdinand Schröder, geb. 1913) und ist mit ihrem Mann in die Sowjetzone gezogen und dort geblieben. Es soll ihnen gut gehen. Mehr weiß ich nicht über sie (Bild 64).
Anton Rupert (Toni), geb. 1918, hat bei seinem Bruder German das Papiergeschäft, später Koch gelernt und sitzt heute als vermögender Mann und Pächter auf dem gutgehenden Hotel “Storchennest“ in Baiersdorf bei Erlangen. Er ist verheiratet und hat drei Jungen (Bild 65).
Friederike Tanzer (1874 — 1944)
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genoß die übliche Ausbildung der Tanzer Töchter: Prager Pensionat, Musik, Hauswirtschaft bei der Mutter. Bei ihrer Heirat mit Julius Stiebitz übernahm Sie das großväterliche Brosche-Anwesen, den Kliegelhof in Techobusitz bei Leitmeritz. Großvater Brosche wollte den Hof einer seiner Enkelinnen übergeben. Nach langem Zögern und Versuchen war seine Wahl auf Frieda gefallen. Doch blieb auf dem Hof eine Hypothek zu Gunsten unserer Mutter, “nach Tunlichkeit und Möglichkeit“ zurückzuzahlen. Julius Stiebitz hielt diese Klausel für eine Formsache und verzögerte die Rückzahlung. Daraus entstand ein Prozess. Wie dieser Prozess ausging, weiß ich nicht mehr, nur, daß er den familiären Beziehungen wenig Abbruch tat: Wir (Vater, Mutter und ich) verkehrten nach wie vor mit und bei den “Stiebitzen“ und die Stiebitzen und wir waren gastfreundlich nach wie vor.
Julius Stiebitz (Bild 67, 72) war ein Sohn des Aujezder Bräuers und Gutpächters Franz Stiebitz. Er hatte eine höhere landwirtschaftliche Schule besucht, war Reserveoffizier der Artillerie und auch sonst, besonders literarisch, gebildet. Seine landwirtschaftliche Ausbildung befähigte ihn, das etwas veraltete Techobusitzer Anwesen, vor allem den Obstbau, zu heben und auch die Nachbarn zum Nacheifern anzuspornen. Ich war viel in Techobusitz und die abendlichen Gespräche mit Julius, seine kluge und leicht ironische Art sind mir in guter und angenehmer Erinnerung. Noch vor dem 2. Weltkrieg übergab er die Wirtschaft an seinen Sohn Franz und zog sich mit Frieda aufs Altenteil, auf die inzwischen erworbene Jakelsche Wirtschaft, zurück. Nach Friedas Tod lebte er bei seinem Sohn Franz auf dem Czernoseker Gut und nach der Austreibung bei seinem Enkel Heinrich Ludwig in Marbach. Dort ist er auch 1959 im gesegneten Alter von 89 Jahren gestorben. Ich war auf dem Begräbnis.
Aus der Ehe Julius-Frieda Stiebitz sind drei Kinder hervorgegangen:
Marie (Maritschel), Franz (Stiebitzfranzl) und Franziska (Stiebitzfannerl) 1898, 1899, 1903.
Marie (1898 - 1945, Bild 68, 69) war mit dem Arzt Dr. Gustav Ludwig (1898 - 1945) verheiratet, und zwar in Budweis. Bei der Besetzung der Stadt im Jahre 1945 gingen Beide, wohl infolge einer Kurzschlußhandlung, in den Freitod. Sie hatten drei stattliche Söhne. Der älteste ist im 2. Weltkrieg gefallen (Gustav), der zweite Heinrich (gen. Heini) lebt heute in der Schillerstadt Marbach. Er hat sich ein schönes Denkmal gesetzt, schöner als alle seine Bauten, durch die liebe- und mühevolle Pflege, die er seinem immer hilfloseren Großvater angedeihen ließ. Alle Verwandten haben diese Leistung bewundert und danken sie ihm. Der dritte Sohn des Ehepaars ist Otto.
Franz Stiebitz (1899 - 1945, Bild 68, 70), ein echter Stiebitz, klug, praktisch, gebildet, mit des Vaters leicht ironischem Einschlag, besuchte nach dem Abitur an der Leitmeritzer Realschule die Landwirtschaftliche Hochschule in Tetschen-Liebwerth und arbeitete dann auf seinem väterlichen Hof in Techobusitz und auf dem später hinzugepachteten Gut Czernosek als moderner Landwirt, indem er erprobtes Althergebrachtes mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgreich verband. Durch den altösterreichischen Politiker Krepek (Freund Thomas Masaryks), einen Freund der Stiebitz Familie, kam er in die Politik, den deutschen “Bund der Landwirte“ in der csl. Republik und wurde damit im Dritten Reich zwangsläufig Landesbauernführer des Sudetenlandes Er war weder ein Fanatiker noch ein Fantast und sah die Dinge, die auf uns zukamen, klar: “Wenn es schief geht, kostet es den Kopf“, sagte er mir einmal. Aber er sah doch nicht ganz richtig, sonst wäre er nicht nach dem Umsturz in der Tschechoslowakei geblieben, im festen Vertrauen auf seine reine Weste. Denn, was hilft die reine Weste: “Wenn man den Hund prügeln will, findet man schon einen Stecken“, sagt ein altes Sprichwort. Und die Tschechen fanden einen brauchbaren Stecken. Wohl konnten sie dem Landesbauernführer Franz Stiebitz kein Kriegsverbrechen nachweisen, aber sie warfen ihm vor, daß er dem sudetendeutschen Freikorps angehört und damit als tschechoslowakischer Reserveoffizier Fahnenflucht begangen habe, und hängten ihn nach einem Scheinprozess am 12.Dezember 1945. Sein letztes Wort soll gewesen sein: “Es lebe das deutsche Volk“. Dieser Vorwurf der Fahnenflucht steht freilich denen wenig an, die im ersten Weltkrieg den österreichischen Fahneneid wie einen alten Petzen hinter sich warfen und nachher noch die Fahnenflüchtigen als Helden verehrten. Aber es war schon immer so und wird immer so bleiben: in politischen und kriegerischen Wirren ist das “ Vae victis“ stärker als das “Fiat justitia“.
Franz Stiebitz war in erster Ehe mit Franziska Peix verheiratet, der Tochter eines nordböhmischen Fabrikanten. Fanny Stiebitz war eine schöne Frau, kluge Beraterin ihres Mannes, treffliche Erzieherin ihrer Kinder, repräsentierende Hausfrau in politischer wie privater Gesellschaft. Sie starb in jungen Jahren an den Folgen eines Autounfalls. In zweiter Ehe heiratete Franz Stiebitz seine vetterliche Nichte Margarete Pokorny (siehe dort). Aus der ersten Ehe stammen drei Kinder: Liesel, Suse, Franz, aus der Zweiten eine Tochter Margarete, genannt die kleine Grete.
Fanni Stiebitz (geb. 1903, Bild 68, 71), die jüngste Tochter der Eheleute Julius und Frieda Stiebitz, ist verheiratet mit Alfred Storch. Storch hat höhere landwirtschaftliche Schulen, war schon in der CSR als Bauer und Landwirtschaftslehrer tätig und lebt jetzt in der Bundesrepublik in ähnlichen Stellungen.
Leonard (Leo) Tanzer III (1875 — 1944)
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Leo besuchte das Gymnasium Mariaschein, maturierte, wie alle Schüler dieser Anstalt, am Staatsgymnasium in Leitmeritz, diente als Einjährig-Freiwilliger im damaligen Divisions-Artillerie-Regiment 2 in Theresienstadt, studierte Jus an der Prager Universität, war kurze Zeit Mitglied der Prager Burschenschaft Ghibelinia, schlug eine Korbpartie mit dem Teutonen Hecht und ging nach dem juridischen Absolutorium als Auditor zum Militär, diente in Budapest und Pola. Nach dem ersten Weltkrieg trat er in den juridischen Zivildienst ein, war Oberlandesgerichtsrat im Burgenland und nach seiner Pensionierung Vertragsbeamter bei der österreichen Gesandtschaft in Prag.
Leo war neben Rosa der Begabteste von uns Tanzergeschwistern: nicht nur als Jurist, auch im Lehen sah er mit klaren Augen, wußte sich in jeder Gesellschaft zu bewegen und schrieb mit einer deutlichen Handschrift stilistisch hochwertige Briefe. Der 16 Seiten lange Bericht, den er mir von der Mittelmeerescadre der österreichisch-ungarischen Marine aus Jerusalem schrieb, war ein druckreifes Meisterstück.
Leo heiratete 1917 die Pragerin Marie Pernfuß (geb. 1885, Bild 76, 100). Aus der harmonischen Ehe kam ein Sohn Leo (geb. 1924, Bild 76, 77 - gefallen im 2. Weltkrieg 1944). Dieser Tod gab dem ohnehin kränkelnden Vater den Rest. Er starb in Prag Ende August 1944. Die Witwe lebt heute noch in Prag in gemeinsamem Haushalt mit ihrer Kusine Anny Horak. Wir danken den beiden Frauen die Großvaterbilder von Hölperl (siehe dort).
Leo Tanzer V (1924 - 1944, Bild 76, 77), der Sohn meines Bruders Leo und seiner Frau Marie Pernfuß war, ohne Übertreibung gesagt, ein mathematisches Genie und, wie die meisten Hochbegabten, einseitig. In den anderen Fächern immer hintennach, ja einige male am Durchfallen, ließ man ihn wegen dieser überragenden mathematischen Begabung immer wieder durchrutschen. Ein schöner Zug der viel geschmähten Schulmeister. Er fiel 1944 in Rußland. In der hinterlassenen Habe, die das Kommando den Eltern zuschickte, befand sich auch ein Notizbuch voll mathematischer Formeln, die Newtonschen Gravitationsgesetze und viel anderes aus der höheren Mathematik, das weit über den Stoff seiner bisherigen Schulbildung hinausging, das er sich im Privatstudium angeeignet oder selbst erarbeitet hatte. Vor diesem Schicksal kann ich nur wiederholen, was ich eingangs über die Nachkommen des Leonard Tanzer und der Franziska Brosche gesagt habe.
Simon Tanzer
(1875 – 1959; Bild 73,78,79)
Moni, wie er im Familienkreis genannt wurde, war ein Zwillingsbruder Leo‘s. Wenn Leo der Begabteste von uns Brüdern war, so kann ich Moni als den gutmütigsten bezeichnen. Ich habe nie ein hartes Wort von ihm gehört und er half, wo er helfen konnte. Er studierte mit Leo in Mariaschein, trat aber nach der vierten Klasse aus und ging, seiner Neigung folgend, an die damalige forstwirtschaftliche Schule in Weißwasser, später Reichstadt. Nach den Abschlußprüfungen war er Forstmann im niederösterreichischen Waldviertel, machte den ersten Weltkrieg als Artillerieoffizjer an der italienischen Front mit, war ein Jahr lang in italienischer Gefangenschaft, setzte dann den Forstdienst fort und brachte es bis zum Oberforstrat. Seine Pensionistenjahre verlebte er in Salzburg.
Er war verheiratet mit der niederösterreichischen Kaufmannstochter Paula Herzog (Bild 79). Die Tochter Paula wurde als Lehrerin ausgebildet, heiratete dann ebenfalls einen Forstmann, den heutigen Oberforstrat Ladislaus Wielebnowsky (Bild 80). Die drei Söhne aus dieser Ehe, der kleinste 1,85 cm groß, einer schöner als der Andere (Bild 80), haben die Großeltern taktvoll betreut und waren auch zu uns (zu Lintschi und mir) freundlich. Alle haben studiert und sind m.W. schön in guten Stellungen.
Alexandrine Tanzer
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(Bild 81)
(in der Familie Drinerl genannt) war nach der Aussage meiner Geschwister ein sehr gescheites und liebes Kind. Auch das Lichtbild im Familienalbum macht diesen Eindruck. Sie ist schon mit 12 Jahren an Gehirnhautentzündung gestorben.Über Hansi Tanzer und Karla Tanzer weiß ich nichts, man hat auch in der Familie nichts Bemerkenswertes über die Beiden gesprochen. Das ist verständlich, denn Beide sind schon als Kleinkinder gestorben.
Bruno Tanzer
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(Bild 82)
Ich wurde 1887 in Saaz geboren, bin aber in Sangerberg aufgewachsen und fühle mich alsSangerberger. Nach dem Besuch der Realschulen in Elbogen und Leitmeritz (Matura in Leitmeritz 1904) machte ich mein Freiwilligenjahr bei unserem Traditionsregiment, dem Divisions-Artillerie-Regiment Nr.26 in Theresienstadt (1904/05), besuchte dann die Prager Hochschulen (Technik und Universität), legte meine Lehramteprüfung für Mathematik und Darstellende Geometrie (1911) ab, tat Schuldienst an der Aussiger Staatsgewerbeschule und der Leitmeritzer Realschule, machte den ersten Weltkrieg in der Front mit, die beiden letzten Jahre als Batteriekommandant, trat dann wieder in den Schuldienst ein, unterrichtete 13 Jahre in Kaaden und 13 Jahre in Aussig bis 1945. Nach dem Umsturz sperrten mich die Tschechen ein Jahr lang ein; seit meiner Entlassung lebe ich im Reich, ein halbes Jahr in der Zone (bis Jänner 1947) und seitdem in der Bundesrepublik in Hersbruck.Ich war nicht nur Mathematiklehrer, denn in den Jahren 1922/24 hatte ich Urlaub zum Besuch der Prager Kunstakademie, legte im Jahre 1924 die Lehramtsprüfung für Zeichnen ab und betätigte mich auch außerhalb der Schule als Maler, Grafiker und Restaurator.
Aus erster Ehe habe ich einen Sohn Peter. Meine zweite Ehe mit Karoline Schmidtmayer (Bild 72,83), 1937 geschlossen, ist kinderlos geblieben. Die erste Frau (Marie Brezina, verw. Nagel) ist in den Umsturzwirren in Prag 1945 verschollen. Mit meiner guten Lintschi lebte ich bis zu ihrem Tod (Grüner Star und Cerebralsklerose) 27 Jahre in guter Ehe.
Peter Tanzer, mein Sohn (Bild 84), hat das Realgymnasium in Aussig bis zur 4. Klasse besucht, dann in Bünauburg bei Tietze Feinmechanik gelernt, die Gesellenprüfung gemacht. Die Aussiger Staatsgewerbeschule konnte er wegen des Krieges nur vier Semester besuchen. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg (Meßtrupp) aus englischer Gefangenschaft heim kehrte (Herbst 1946), wollte ihm das Nürnberger Ohm‘sche Polytechnikum die Aussiger Semester nicht voll anrechnen und machte auch sonst noch allerlei Schwierigkeiten. Darauf besuchte und absolvierte Peter die Textilfachschule in Münchberg, heiratete (1948) die Tochter Lilly (Bild 85) des Hersbrucker Textilfabrikanten Hans Pittroff und trat in das Geschäft des Schwiegervaters ein. Er hat mehrere Patente in Webereimaschinen.
Aus der Ehe stammt ein Sohn Wolfgang, geboren 1951.
Das Familienwappen
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Beschreibung nach dem Lichtbild und nach meiner Erinnerung an den Grabstein Leonard Tanzer I auf dem Sangerberger Friedhof:
Weißer Balken im blauen Feld, oben ein weißer Vogel, unten ein goldener Sechsstern, auf dem Balken in goldener Antiqua die Buchstaben L. T. (Leonard Tanzer), um das Ganze eine Helmzier in Blau und Gold.
Deutung des Wappens:
Der Vogel:
Ich war früher der Meinung, daß er eine Taube vorstellen solle. Später aber kamen mir Zweifel, denn was sollte die Taube bedeuten und warum hatte sie einen so langen Stoß? In diesem Nachsinnen kam mir plötzlich ein Einfall: den längsten Stoß hat der Pfau und der Pfau (siehe oben) ist doch das Wahrzeichen der Tanzerhäuser. In Sangerberg standen Pfauenwindfahnen auf dem Fichtlseffenhof und auf dem neuen Gebäude (Nr.165) und in dem Saazer Haus soll es auch Pfauenzierat gegeben haben. Daß dieser Wappenpfau nicht die übliche Pfauenstellung (Rad) und auch sonst manche Abweichungen zeigt, kann daher rühren, daß schon der Bildhauer den Vogel mißgestaltet und die Verwitterung eines Jahrhunderts ihn noch weiter verunstaltet hat.
Der Sechsstern:
An ihm rätselte ich noch mehr herum und kam nicht darauf, was er bedeuten solle; nur, was er nicht war, wußte ich bestimmt: es war kein Zionsstern. Denn was hätte die urkatholische Familie Tanzer mit dem Zionsstern zu tun? Immerhin suchte ich Unterschiede zwischen unserem Wappenstern und dem Judenstern, glaubte, einige in den Winkeln zu finden, suchte nach der Begründung der Sechszahl, fragte mich, warum man zur Vermeidung von Mißverständnissen nicht die Fünf oder Sieben genommen hätte, suchte, glaubte und fragte, fand aber nichts, bis zum 8. November 1957. Denn an diesem Tage las ich in dem Büchlein “Bayrisch Bier“ von Helmut Hochrainer auf Seite 49:
„... Daß Brauer und Wirte sich alchemistische Symbole als 4 Zeichen ihrer Zunft zu Eigen machten, beweist, wie sehr die Braukunst vergangener Zeiten im Nebel abergläubischen Dilettantismus gefangen lag. Aus dem Zeichen für Feuer, Y dem mit der Spitze aufwärts weisenden Dreieck - und dem Symbol für Wasser, einem mit einer Seite nach oben liegen den Triangel ‚ wurde durch Ineinanderschieben das Zeichen für Kochen und Sieden und Brauen. Die Gasthäuser mit dem sechseckigen Stern und Schild und Namen sind aber auch in unseren Tagen nicht selten anzutreffen.“ (Bild 87, 88).
Damit dürfte auch das Sternrätsel gelöst sein.
Und nach alldem sehe ich das Familienwappen so:
Der Vogel: ein Pfau
Der Sechsstern: das Brausymbol
Die Helmzier: HopfenblätterAlles in allem: für einen Hopfenhändler ganz passend.
Gleichzeitig dürfte damit klar sein, daß dieses Familienwappen auf dem Grabstein des Leonard Tanzer I kein echtes, kein verliehenes, sondern ein angenommenes Wappen ist, wie es damals Mode war. Ich denke auch gar nicht daran, das Wappen zu führen oder die Verwandten dazu anzuregen. Ich meine aber doch, daß dieses Familienwappen in einer Familiengeschichte einen Platz finden muß.
Das Hopfengeschäft und die Firma Gebrüder Tanzer
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Immer, wenn man mit einem Hopfenhändler sprach, lästerte er über sein Geschäft und konnte es doch nicht lassen. Gewiß, man konnte dabei Haus und Hof verlieren, aber viele sind doch durch den Hopfenhandel reich geworden. Wenigstens damals im 19. Jahrhundert und um die Wende zum zwanzigsten.
Freud und Leid dieses Geschäftes war sein lottoartiges Wesen, das sich dem damals geltenden wirtschaftlichen Gesetz der liberalen Aera, dem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, zu entziehen schien. Es gab oft viel und teueren, oft wenig und billigen Hopfen und dann war es wieder umgekehrt. Und so trat an die Stelle wirtschaftlicher Kalkulationen die Spekulation. Vorkäufe wurden schon im Frühling abgeschlossen und die Börse mit ihrem “corriger la fortune“ hatte an der Preisbildung reichlichen Anteil.
Ja, wird man fragen: warum kauften denn die Bräuer nicht direkt beim Bauern ein? Warum nahmen sie, die einzigen Hopfenverarbeiter, den Zwischenhandel und seine offenbaren Nachteile in Kauf? Darauf könnte man wohl antworten, daß es ja auch einen Getreide- und Holzhandel gebe, aber mit diesem Hinweis wäre die berechtigte Frage nicht hinreichend beantwortet. Die Gründe lagen in der Eigenart dieses Geschäftes: Der Hopfenhandel arbeitete vorwiegend “auf Ziel“, d. h. die Zahlung brauchte erst zu einem vereinbarten späteren Zeitpunkt erfolgen. Und dieser “Zielkauf“ war den vielen kapital schwachen Kleinbrauereien um so mehr willkommen, als sich bei Ihnen, wegen des geringen Bedarfes, ein eigener Direkteinkäufer nicht lohnte.
Heute überwiegen die kapitalskräftigen Großbrauereien, viele kaufen unmittelbar beim Bauern ein und darum ist das Hopfengeschäft, der Zwischenhandel, im Abflauen begriffen. Auch die ehemals großen Geschäfte sind kleiner geworden und haben, um sich über Wasser zu halten, oft andere Waren wie Wein, Mehl, Schnaps u.a.m. in Vertrieb nehmen müssen.
Dazu höre ich noch von meinem Bruder Moni (Simon Tanzer): “Das Hopfengeschäft wurde in ganz Europa betrieben, hauptsächlich in Osterreich, Deutschland, Italien, Schweiz, England und Rußland. Die Geschäfte müssen anfangs gut gegangen sein, da die Bauern über die jeweiligen Preise wenig orientiert waren, Eisenbahnen und Post noch in den Kinderschuhen steckten und die Zahl der Hopfenhändler verhältnismäßig gering war. Auch beim Absatz tat man sich leicht, wenn die viel begehrten Falkenauer und Saazer Hopfen einmal knapp waren, “machte“ man sie aus anderen Sorten durch Beimengen von Ruß oder durch Schwefeln“.
Wann unsere Vorfahren mit dem Hopfenhandel begonnen haben, konnte ich nicht genau feststellen. Sicher ist, daß Leonard Tanzer I schon Anfang des 19, Jahrhunderts ein so umfangreiches Hopfengeschäft betrieb, daß die Vermutung nahe liegt, er habe auf der Arbeit seines Vaters Johann Josef Tanzer weitergebaut. Ich besaß ein Geschäftsbuch aus dieser Zeit, in dem ein großer Kundenkreis, vorwiegend in Bayern ansässig, verzeichnet war. Auch das Testament des Leonard Tanzer 1 (siehe oben) läßt einen Vermögensstand erkennen, der nicht aus dem Sangerberger Boden gewachsen sein kann.
Unter Thaddäus Tanzer dehnte sich das Geschäft nach Ungarn, Österreich, Deutschland und Italien aus (Bild 89). Thaddäus Tanzer war es wohl auch, der wegen dieser Ausweitung von dem bisherigen Brauch abging, den Hopfen mit Pferdefuhrwerken nach Sangerberg zu bringen und von dort auf dieselbe Weise wieder zu verschicken, sondern sich in Saaz, dem Zentrum des Handels, festsetzte und das neue Beförderungsmittel, die Eisenbahn, benützte. Er und sein Bruder Johann Tanzer gründeten die Firma “Gebrüder Tanzer“ (siehe oben). Seitdem liegt auch die Schreibweise Tanzer mit “T“ fest, während in früheren Urkunden und Briefen D und T wechseln. Man scheint sich auf das“harte T“ geeinigt zu haben, um Verwechslungen mit anderen Firmen Danzer (Kaspar, Karl, Franz, Stanislaus, Leonard u.a.m.) vorzubeugen. Unter Thaddäus Tanzer und in den Jahren kurz nach seinem Tode scheint die Firma Gebrüder Tanzer auf der Höhe gewesen zu sein. Beweis dafür: Die Brüder hätten damals, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, den ganzen Kaiserwald kaufen können, wenn sie einig gewesen wären, und Johann Tanzer soll bei seinem Tode (Siebziger Jahre ?) seinem einzigen Sohn Adam neben seinem Geschäftsanteil noch ein Barvermögen von 800 000 Gulden hinterlassen haben, einen Betrag, der einem heutigen Vermögen von 10 Millionen entsprechen könnte. So hat man, wer, weiß ich nicht mehr, mir seinerzeit in Sangerberg erzählt. Mein Bruder Noni meint, daß Adam im Ganzen nur “600 000 Gulden“ besaß und die wären im Geschäft gesteckt.
Die neuen Chefs, Leonard Tanzer II, sein Bruder Simon Tanzer und ihr Vetter Adam Tanzer, hatten somit die besten Startverhältnisse. Im Anfang ging auch alles gut, das Geschäft blühte. In London (Mister Lowybon, Bild 90), in Paris und Wien hatte es Filialen, mit Amerika war man ins Geschä gekommen, mit Rußland, Polen und Schweden u.a. Ja, mein Vater hat sogar einmal die berühmte Messe von Nischni Nowgorod besucht. Den seidenen Schlafrock, den er damals mitbrachte (innen kardinalrot, außen weiß-rot-grün-gelb geflammt), habe ich geerbt und noch lange über den ersten Weltkrieg hinaus benützt.
Hatte der Urgroßvater sich noch mit einem einzigen und primitiv geführten Geschäftsbuch begnügen können, so mußte jetzt ein ganzer Stab von geschulten Leuten in mächtigen Polianten kunstgerecht Buch führen. Ich habe diese Bücher oder doch einen großen Teil davon noch gekannt: Sie waren deckelfrei in schwarzgrünes Leinen gebunden, kalligraphisch geführt und mochten, wie sie so in einem wüsten Haufen auf dem Sangerberger Wirtsboden lagen, eine gute Wagenladung ausmachen.
In einem Schupfen des Kloiberhofes stand eine Kiste mit alten Geschäftsbriefen, die ich als Junge oft nach Marken durchstöberte. Ich konnte freilich nur eine Nachlese halten, denn die Rosinen hatten schon meine Brüder Leo und Moni ausgeklaubt; aber mir ist noch wohl erinnerlich, daß diese Briefe aus allen Himmelsrichtungen und Ländern hergekommen waren, aus Deutschland, Osterreich, Italien, England u.a.m.
Um 1880 begann es im Gebälk dieses anscheinend so wohl und fest gegründeten Hauses zum ersten Mal zu knistern. Der Hopfen war hoch im Preis gestanden, Gebr. Tanzer hatten u.a. auf 1000 Zentner zu 800 Gulden mit einer amerikanischen, ich glaube in Brasilien, Firma abgeschlossen. Aber als der Hopfen dort ankam, wurde er beanstandet und “zur Verfügung gestellt“. Da die Preise inzwischen gefallen waren und der Rücktransport zu kostspielig gewesen wäre, mußte die Ware verschleudert und zu 20 Gulden je Zentner losgeschlagen werden.
Das war ein empfindlicher Verlust und er war umso ärgerlicher, als das nächste Jahr eine solche Mißernte brachte, daß wir auch für den beanstandeten Hopfen den alten hohen Preis erzielt hätten, wenn wir gewartet hätten. Ja, wenn! Das war eben das Teuflische an diesem Geschäft.
Dann kam die unangenehme Geschichte mit der Großbrauerei Dreher-Wien, einem unserer besten Kunden. Dreher war versessen auf den Rennsport und einer unserer Kompagnons, ich glaube, es war Simon, nicht minder. Dieser Wetteifer, die besseren Pferde laufen zu lassen, führte zu Eifersüchteleien und schließlich zum Verlust dieser wertvollen Kundschaft.
Nun ging es Schlag auf Schlag nach dem Gesetz der Serie und, wie das Sprichwort so treffen sagt: wenn einer Pech hat, bricht ihm der Finger in der Nase ab.
Den Todesstoß aber versetzte Melle. Das Bräuhaus Melle bei Osnabrück geriet in Konkurs. Unsere Firma hatte Forderungen in Höhe von 250 000 Taler und beteiligte sich darum an der Zwangsversteigerung. Aber wir hatten mit der Entsendung von Onkel Simon keinen guten Griff getan. Er soll sich bei der Besichtigung mehr mit seinen Liebhabereien (Uhren, alte Möbel u.a.) beschäftigt haben als mit dem Braubetrieb und sei in der Versteigerung bis auf 300 000 Taler gegangen, weil ihn der Offiziersehrgeiz ritt, “sich nicht überbieten“ zu lassen. (Mitteilung meines Bruders Moni). Als man den Braubetrieb aufnehmen wollte, zeigte sich, daß er veraltet war. Die Herrichtung kostete wieder 250 000 Taler. Aber das schlimmste an dieser Geschichte war, daß sich die umliegenden Brauereien gegen diese Konkurrenz des Hopfenhandels wandten und uns die Kundschaft kündigte, was zu einem Absatzverlust von 8000 Zentnern jährlich führte.
So kam es, daß die Firma um die Mitte der achtziger Jahre in Zahlungsschwierigkeiten geriet und die Brauerei Melle gegen Grundstücke bei Berlin umtauschen mußte. Es waren die Gründe, auf denen heute das Moabitviertel mit der Charité steht. Die Spekulation mit den Baugründen war nicht schlecht und hätte die Firma gerettet, wenn die Gründe nur zwei Jahre, bis zum Beginn der Bautätigkeit, zu halten gewesen wären. Das war aber nicht möglich, umso weniger, als Tante Thusi ihr Geld zurückzog. Vielleicht wurden wir auch überredet oder überlistet. Es sollen sogar Bankdirektoren als Agenten getarnt zu uns gekommen sein und um die Gründe gefeilscht haben.
Hier wären noch einige Rettungsversuche zu erwähnen. Ein Jude redete unserem Vater zu: “Leonard, Du kannst Dich nicht mehr auf die Dauer halten. Zieh Dein Geld aus dem Geschäft und kauf Dir Aktien des neuen Pilsner Brauhauses“. Das wäre, wie sich später zeigte, nicht nur eine Rettung, sondern sogar ein gutes Geschäft gewesen. Aber Leonard Tanzer ging nicht darauf ein: geschäftliche Ehrbegriffe, Familiensinn, wohl auch Starrsinn mögen ihn gehindert haben.
Auch der Plan, in dem aufblühenden Kurort Marienbad Häuser zu bauen, fiel ins Wasser. Warum das weiß ich nicht.
Der Bankrott war nicht mehr zu vermeiden und ihm schloß sich der Konkurs zwangsläufig an. Es gab viele und lange Prozesse bis zur völligen Abwicklung. Unser Vater warf hin, was er noch hatte, “um den ehrlichen Namen zu retten“. Sogar die Taufgelder der Kinder wurden verwendet. Dann zog man nach Sangerberg und richtete sich dort mit Hilfe des Broschengroßvaters (Vater meiner Mutter) schlecht und recht ein. Das war im Jahre 1888.
Dazu schreibt mir Bruder Moni: “Der Bankrott der Firma Gebrüder Tanzer dürfte im Jahre 1884 erfolgt sein. Bei der Versteigerung erstand Großvater Brosche die Sangerberger Wirtschaft mit 45 000 Gulden, die Gebäude und das Areal, über 200 Joch Grund. Ob Sangerberg der Firma gehörte oder von unserem Vater zur Rettung der Firma Gebrüder Tanzer beigestellt wurde, weiß ich nicht genau. Ich vermute aber, daß er der Eigentümer war und sämtliche greifbaren Mittel, die Mitgift unserer Mutter (40 000 Gulden), die Spargroschen der Kinder u.a.m. der Firma opferte, während Onkel Simon, der eine reiche Frau geheiratet hatte und leicht hätte helfen können, versagte. Sangerberg schenkte dann der Großvater unserer Mutter, seiner Tochter Franziska Tanzer. Brosche soll sein Vermögen hauptsächlich aus dem Hopfeneinkauf für die Firma Tanzer erworben haben und ich vermute, daß er Sangerberg erwarb, um sein Guthaben bei der Firma abzudecken. Onkel Simon, der Bruder unseres Vaters, war Offizier mit Carenz aller Gebünren und lebte auf großem Fuß, und Onkel Adam (Bild 90) kannte auch nur das Vergnügen, so daß die Geschäfte ganz auf unserem Vater lasteten.“
Nun wären noch einige Nachspiele zu erzählen:
Die Firma Gebrüder Tanzer bestand nicht mehr, aber aus den vielen glücklichen Jahren waren Ihr doch einige Freunde geblieben, auch Kunden, die so etwas wie einen Personalkredit und damit einen geschäftlichen Aktivposten bedeuteten.
So verhielten sich die “Auschaer Hopfenjuden“ (Veigel, Benjamin Schwarz u.a.) wirklich anständig. Sie strichen ihre Forderungen an die Firma mit der Begründung, sie wären durch frühere Gewinne gedeckt. Und wenn mein Vater später einmal nach Auscha kam, wurde er ebenso wie früher begrüßt, als er mit fürstlichem Glanz eingezogen war.
Auch der Inhaber der Saazer jüdischen Firma Bechert, der sich immer einen guten Freund Leonard Tanzers genannt hatte, schien sich seiner Freundschaftspflicht zu erinnern. “Schau Leonard“, sagte er zu unserem Vater, “Du hast wohl Pech gehabt, aber Du bist darum noch nicht unten, kannst noch etwas leisten. Aber laß die eigenen Geschäfte sein und komm zu mir. Ich gebe Dir aus alter Freundschaft gern 1000 Gulden monatlich“.
Das war nach damaligem Geldwert ein fürstliches Angebot und Vater ging darauf ein. Mit diesen 1000 Gulden konnte er wohl nicht sein bisheriges Leben weiterführen, aber er hatte doch mitsamt seiner großen Familie (10 unversorgte Kinder) ein gutes Auskommen.
Besser gesagt: hätte gehabt. Denn das schöne Gehalt dauerte nicht lang, sondern verminderte sich in dem Maße, wie der restliche Kundenstamm der Firma Gebrüder Tanzer in die Firma Bechert überging. Schließlich war er so zusammengeschmolzen, daß Vater kündigte und versuchte, sich mit Hilfe seines Sohnes Franz wieder selbständig zu machen. Ich erinnere mich noch gut, wie die beiden ein langes Telegramm nach Ruß land aufsetzten und unsere Mutter über diese “unnütze Ausgabe“ jammerte. Sie behielt recht und auch in vielen anderen Fällen ging es so:
Bechert hatte gute Arbeit getan.
Besonders “schön“ war, was mein Bruder Franz bei einer Kundenwerbung in Berlin erlebte. Der Vater hatte ihn zu einem Herrn in Berlin geschickt. Den Namen weiß ich nicht mehr.
“Der Mann ist uns verpflichtet“, sagte unser Vater, “nicht nur, daß er als Braumeister von uns reichliche Ballengelder (eine Art Provision oder Trinkgeld, das aber nicht als Bestechung galt und allgemein üblich war, etwa so wie der heutige 10% Bedienungszuschlag in Gastwirtschaften) eingesteckt hat, er hat auch auf ein Los von mir eine kleine Million gewonnen und sich damit ein gutes Aktienbündl also auch Einfluß auf den X-Konzern erkauft. Er wird Dir sicherlich durch Empfehlungen helfen.“
Also ging Franz hoffnungsfroh zu dem großen Mann, wurde aufgenommen und das freundliche Eingehen auf die Annäherungsversuche meines Bruders ließ das Beste hoffen.
“Nur“, meinte der Herr wie zufällig im Laufe des Gespräches, “hätte ich noch 300 Mark Ballengelder zu bekommen, die Ihre Firma in den Wirren des Konkurses vergessen haben dürfte“.
Was tun, wenn man jemand braucht. Franz zog sein mageres Beutelchen, legte die 300 Mark auf den Tisch und ging nun erwartungsfreudig und ungetarnt auf sein Ziel los. Aber da wurde der Herr sehr kühl:
“Wenn ich etwas vermöchte, würde ich es gerne tun. Aber ich habe mich aus dem Konzern zurückgezogen, zur Ruhe gesetzt und habe keinen Einfluß mehr.“
Ja, das sind so Erfahrungen, die einem die Lust zu weiteren Plänen nehmen können. Franz arbeitete aber doch noch eine zeitlang auf eigene Rechnung weiter, dann in der Firma German Pöpperl (Schwester Rosa) und schließlich als Angestellter von Josef Paulus in Saaz. Sic transit gloria mundi.
So war das Ende. War es eine Tragödie? Hat das Leid die eigene Schuld überwogen? War es Schuld oder Verhängnis? Oder haben gar die weißen Pfauen....?
Die Pfauen? Nun ja, unser Vater liebte sie und hielt immer welche im Hof. Auf dem neuen Wohnhaus drehte sich einer stolz als Windfahne, die beiden Gebäude des Föichtlseffenhofes, der damals dem Adam Tanzer gehörte, waren mit Pfauen geziert und auch im Saazer Haus soll sich ein Eisengitter mit Pfauenmotiven befunden haben. Und weil die Pfauen im Volk als Unglücksvögel gelten, so hat man oft geraunt, auch schon deutlich ausgesprochen: Man habe es schon lange befürchtet und habe oft gewarnt, aber wie die Tanzers schon sind, sie lassen sich ja nichts sagen.
Nun könnte ich als Nachkomme eben dieser Tanzer und als Kind des zauberfremden 19. Jahrhunderts über den Aberglauben lachen, die Pfauensage nur als Merkwürdigkeit erwähnen oder ganz darüber hinwegsehen. Aber das mag ich nicht, es wäre nicht ganz ehrlich, denn wenn Ihr mich auch verwundert anschaut oder gar auslacht: es ist was dran an diesem Pfauenglauben. Pfauen und Mißgeschick, der Zweiklang findet sich häufig; das Volk hat gut beobachtet, nur falsch geschlossen.
Als man uns Kindern sagte, daß hoch und tief fliegende Schwalben gutes und schlechtes Wetter bedeuteten und wir die Regel bestätigt fanden, da hielten wir die Schwalben für Wettermacher. Später erst lernten wir, daß der Schwalbenflug sich nach den Mücken, die Mücke wieder sich nach der Luftbeschaffenheit richtet und diese, die Luftbeschaffenheit, erst ans Wetter heranführt.
Genau so mag es hier zugegangen sein. Die armen Pfauen haben keine Schuld am Unglück der Menschen, sie sind wahrscheinlich nur das letzte, das anzeigende Glied einer Kausalkette.
Kausal (Ursachen, Verursachungs-Kette)! Ja wo sind denn dann die eigentlichen Ursachen? Und wie hängen sie mit den Pfauen zusammen? Ich habe mir zwei Möglichkeiten zurechtgelegt. Es mag noch mehr geben.
Die erste nimmt das Baudouin‘sche Gesetz der verwandelten Anstrengung zum Ausgang, die Tatsache, daß der Unsichere durch Einsatz seines Willens zum Gegenteil der Absicht gelangt. Wer nicht ganz schwindelfrei ist und etwaige Anwandlungen willentlich bekämpfen will, wird nur noch stärker vom Schwindel befallen. Als wir rad fahren lernten, waren wir alle oft geneigt, an einen bösen Zauber zu glauben, wenn wir immer wieder das erlebten: der Versuch, der Vorsatz und feste Wille, einem Stein auszuweichen, endete auf eben dem Hindernis. So mag auch das trotzige Bestreben der Tanzer, ihren lieben Vogel zu rechtfertigen und den Aberglauben Lügen zu strafen, eben, weil sie als Kinder einer dunklen Zeit ihrer Sache doch nicht ganz sicher waren, dazu geführt haben, daß sie sich nur noch ärger in den Fäden ihres Schicksals verfitzten und schließlich zu Fall kamen.
Und noch eine Deutung, die ich wegen ihrer Einfachheit fiir die wahr scheinlichere halte. Die Vorliebe des Bürgers für den königlichen Luxusvogel kennzeichnet eine Wesensart, welche über ihren Lebenskreis hinausstrebt, aber, wenn ihr die Kraft dazu fehlt, und das ist meist der Fall, den vertrauten Boden unter den Füßen und damit die Grundlage des Erfolges verliert.
Also nicht der Pfau ist schuld. “In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne“. Der Pfau hat sie nur angezeigt.
Die großen Familienbildnisse
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Wir besaßen außer vielen Lichtbildern auch neun Ölbilder:
1. Das Bild des Thaddäus Tanzer als Bräutigam in Sangerberger Tracht.
2. Das Brautbild der Franziska Tanzer, geb.Brunner, in Sangerberger Tracht (etwa 40 x 50 cm).
3. Ein Jugendbildnis meines Vaters Leonard Tanzer aus den 50er Jahren in Biedermeiertracht.
4. Ein Bildnis des Thaddäus Tanzer ohne Bart (etwa 60 x 80 cm).
5. Ein Bildnis des Thaddäus Tanzer mit Bart (etwa 82 x 102 cm).
6. Ein Bildnis der Franziska Tanzer geb.Brunner (etwa 82 x 102 cm).
7. Ein Bildnis des Lebnard Tanzer,‘meines Vaters, als Bräutigam (etwa 46 x 57 cm).
8. Ein Bildnis der Franziska Tanzer, geb.Brosche, meiner Mutter als Braut (etwa 46 x 57 cm).
9. Ein großes Gruppenbild der ersten sechs Kinder des Leonard und der Franziska Tanzer, meiner Geschwister Fanny, Franz, Hermine, Tina und Frieda (etwa 160 x 140 cm).
Die Bilder 1 und 2 waren keine Kunstwerke, wahrscheinlich Erzeugnisse eines Handwerkers oder Wandermalers. Auf dem Lichtbild meiner Wannower Zimmerecke (Bild 91) stehen sie ganz oben. Diese Bilder sind bei der Aussiedlung im Sudetenland geblieben.
Die Bilder 3 und 4 waren sehr gute Arbeiten des sudetendeutschen Malers Anton Hölperl. Auch diese Bilder sind bei der Austreibung zurückgeblieben.
Die Bilder 5, 6, 7 und 8 sind uns nur darum erhalten geblieben, weil sie in der Wohnung meines Bruders Leo in Prag hingen. Bei ihm, dem österreichischen Staatsbürger, wurde weder geplündert noch beschlagnahmt und seine Witwe (Marie Tanzer, geb. Pernfuß) hat uns die Bilder später geschickt. Darüber schreibe ich noch ausführlich.
Das Gruppenbild 9 war wohl auch ein Werk des Malers Anton Hölperl, wirkte aber in der Komposition gezwungen, nur die Köpfe waren gut. Das brachte mich auf den Gedanken, es zu zerschneiden und die Teile den dargestellten Geschwistern oder ihren Nachkommen zu schenken. Erleichtert wurde mir dieser sonst schwere Entschluß durch den Zustand des Bildes: es war beim Verkauf des Sangerberger Hofes (1910) an den Wolfsteinwirt Sabathil (einen entfernten Verwandten) gekommen. Der es wohl einige Jahre als eine Art Paravent verwendet und leidlich gepflegt, später aber gerollt in eine feuchte Scheune ge legt. Diese Lagerung war dem Bild so schlecht bekommen, daß Herr Sabathil froh war, mir mit dem Geschenk eine Freude zu machen. Aus der geplanten Schenkung an meine Geschwister ist freilich nichts geworden: die Schnittbilder sind auch im Sudetenland zurückgeblieben. Auf dem Lichtbild meiner Wannower Zimmerecke ist eines (Schwester Tina) zu sehen, das dritte von rechts.
Daß ich die Bildnisse 5, 6, 7 und 8 wiederbekam, danke ich der gütigen Gesinnung und selbstlosen Hilfe meiner Schwägerin Marie Tanzer, der Witwe nach meinem Bruder Leo. Sie hat die Bilder nicht nur frei gegeben, sondern auch freibekommen: im Verein mit ihrer tschechischen Kusine, Frau Anny Horak (Bild 100) durch die amtlichen Klippen geschleust und sogar die mühevolle Verpackung bewältigt. Für diese Leistung werden wir, ich und alle Verwandten, die an meiner Familiengeschichte Freude haben, immer zu Dank verpflichtet bleiben.
Der Weg vom Entschluß, die Bilder herzuschaffen, bis zum Gelingen war wirklich mehr als beschwerlich.
Da waren zunächst die Verhandlungen mit den tschechoslowakischen Behörden, denn der Staat ist sehr darauf bedacht, die Kunstschätze seines Hoheitsgebietes zu schützen. Darum mußten die Bilder erst von einem Kunstfachmann geprüft und geschätzt werden. Dann begann das umständliche amtliche Freigabeverfahren und als das alles durchgeführt war, folgten die technischen Schwierigkeiten der Verpackung.
In Prag war keine geeignete Kiste aufzutreiben. Ich mußte sie hier nach den Prager Maßangaben machen und durch die Nürnberger Transportlader AG zuerst nach Nürnberg und von dort nach Prag befördern lassen.
Diese Kiste war ein verzwicktes Werkel. Ich hatte lange gegrübelt und gebastelt, ehe sie mir tauglich erschien, einen sicheren Transport zu gewährleisten. Mit einer seitenlangen Gebrauchsanweisung und bangen Erfolgswünschen schickte ich sie auf die Reise.
In der nun folgenden Wartezeit schwankte ich wieder zwischen Erwartung und Befürchtungen. Endlich kam der erlösende Brief, der den vielmaligen Schriftenwechsel günstig beendete. Tante Mantschi schrieb: „Wir freuen uns, dass Du endlich in den Besitz der schönen Familienbilder kommst und daß diese der Familie erhalten bleiben, wie ich es stets gewünscht habe“.
Aber damit waren die Bilder noch nicht in meiner Hand, denn nun begannen hier die Einfuhrscherereien, weil der Stichtag für solche Einfuhren längst verstrichen war und die Bundesrepublik auch ihren Zoll forderte. Doch ich hatte Glück: die Beamten des Nürnberger Zollamtes, die meinen Fall erledigten, waren meist Sudetendeutsche und gingen mir mit guten Ratschlägen großzügig zur Hand. Sie waren aufgeschlossen für meine Darlegung, daß meine Bilder nur Familien, aber keinen Marktwert hätten. Der Form halber mußte die Kiste aber doch geöffnet werden. Und da erschraken wir alle: ich in der Rührung des Wiedersehens, die Beamten über die Güte der Bilder, die auch dem Laien einleuchten und einen entsprechend hohen Zoll wahrscheinlich machen mußte. Denn dieser Zollbemessung sollte der Wert zu Grunde gelegt werden, den ein gleichwertiges Bild heute kosten würde und vier solche Bilder waren heute sicherlich nicht unter dreitausend Mark zu haben (im Jahre 1958!). Aber auch hier fanden die Beamten einen Ausweg aus dem Widerstreit von Pflicht und Anteilnahme:
“Machen Sie einen Antrag auf zollfreie Einfuhr mit der Begründung, daß Ihre Verhandlungen schon jahrelang liefen und erst jetzt günstig erledigt wurden, so wie Sie uns Ihre Bemühungen geschildert haben. Wir werden den Antrag nach Tunlichkeit wohlwollend behandeln.“ Und so taten sie auch. In Berchtesgaden erhielt ich den Bescheid vom 24.7.1958: “Ich habe Ihnen die Eingangsabgaben für Ihre vier Familienbilder erlassen ( 131, Abgabeordnung in Verbindung mit Erlaß des Bundesministers der Finanzen vom 7.11.1953, Bundeszollblätter 53, Seite 810).
Nun hängen die Bilder in unserem Wohnzimmer. Über Eck hängen sie: in der Mitte die beiden monumentalen Großelterntafeln (Bild 92, 93, 94 und 95) und zu beiden Seiten die kleineren Elternbilder (Bild 96, 97, 98 und 99); zwar ohne Rahmen, denn diese Ungetüme der Gründerzeit hätten den Transport allzu sehr erschwert. Aber sie wirken auch so als Bilder schlichtweg. Selbst gelegentliche fremde Besucher äußern je nach Bildung und Kunstverständnis ihre Zustimmung.
Mir und Lintschi sind sie freilich noch viel mehr. Täglich sehen wir sie an, sprechen über Wechsel und Wirkung der Beleuchtung und oft in stillen Abendstunden schauen wir auch mit inneren Augen. Dann steht der mannhafte Thaddäus vor uns und in behäbiger Vornehmheit die Großmutter. Aber auch trübe Gedanken befallen uns, wenn uns das Absinken der Eltern vor Augen steht: kleiner im Format sind die Bilder und künstlerisch weniger bedeutend, fast wie Farbfotografien, würde man heute sagen, erscheinen sie uns, so als hätte der Maler in seinen Modellen schon den Niedergang des großen Hauses vor empfunden.
Und nun einiges über den Maler Anton Hölperl. Er hat als Porzellanmaler in Schlaggenwald begonnen und sich allmählich zum „Kunstmaler“ und Porträtisten in Prag hinaufgearbeitet. Nach seinen Arbeiten darf ich als Fachmann wohl schließen, daß er sehr begabt war und wahrscheinlich auch, vielleicht mit Hilfe des Thaddäus Tanzer, eine künstlerische Ausbildung genossen hat. Aber darüber weiß ich nichts Näheres, denn eine Abhandlung des sudetendeutschen Schriftstellers Homer (Egerländer Bundeszeitung 1943 oder 1944) über Hölperl ist bei der Aussiedlung auch zurückgeblieben und mir nur noch dunkel in Erinnerung.
Unsere Ölgemälde sind wahrscheinlich nach Lichtbildern gemalt. Ich schließe das aus zwei Feststellungen: Die großelterlichen Bilder stimmen bis auf die Kopfhaltung und einige kleine Abweichungen der Ähnlichkeit mit den Fotos (Bild 9, 10) überein und das Wichtigste: das Großvaterbild ist mit 1875 datiert, also sechs Jahre nach seinem Tode entstanden. Diese Abweichungen im Großvaterbild deute ich aber zu Gunsten des Malers. Er hat die Großeltern aus eigener Anschauung gekannt und die Bilder, bewußt oder unbewußt, in künstlerischer Zielsetzung über das bloß Fotografische hinausgeführt, seine innere Anschauung gestaltet: den großen Handelsherrn mit seiner mütterlichen Lebensgefährtin dargestellt.
Nachwort
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Das Vorwort meiner Familiengeschichte schrieb ich im August 1949, dieses Nachwort schreibe ich im August 1963, also 14 Jahre später. Damit ist aber nicht gesagt, daß mich die Arbeit 14 Jahre lang ununterbrochen beschäftigt, auch nicht, daß sie 14 Jahre lang brachgelegen hätte. Die Wahrheit liegt, wie meist, in der Mitte:
Ich habe in der Arbeit der Familiengeschichte Pausen gemacht und in diesen Pausen anderes gearbeitet.
Dieses Hinausziehen hat der Familiengeschichte nicht geschadet, ja, in einer Hinsicht sogar genützt. Die Bildersammlung ist gewachsen. Ich habe mehr zusammenbekommen, als ich, siehe Vorwort, je gehofft hatte.
So ist meine Familiengeschichte allmählich im Konzept und jetzt endlich auch die Reinschrift fertig geworden. Doch mit meiner Familiengeschichte ist die Geschichte der Familie Tanzer noch nicht zu Ende. Meine Arbeit will ja nur ein Anfang sein, der Euch, meine lieben Verwandten, zur Fortsetzung anregen soll.
Die Kinder meiner Brüder sollen die Familiengeschichte ihrer Mütter zusammenstellen, die Kinder meiner Schwestern die Familiengeschichte ihrer Väter schreiben. Und ähnliche Fortsetzungen wären dann Sache der Kindeskinder.
Ich wünsche Euch dazu viel Eifer und Glück und weniger Mühe und Hindernisse, als mir beschieden waren.